2012 hat Nevena Šešlija am Historischen Institut der Uni Duisburg-Essen ihre Magisterarbeit eingereicht: Mobilität im Ruhrgebiet 1945-1990. Das Verschweigen der Drahtesel.
Diese Arbeit ist eine einzigartige Quelle für den Radverkehr im Ruhrgebiet und speziell auch in Bochum bis 1990. Das Ergebnis: Bochum war Fahrradstadt – bis 1960.
1945 war die Innenstadt von Bochum zu 90 % zerstört. Baudezernent Clemens Massenberg erarbeitete einen Neuordnungsplan für eine radikal veränderte Innenstadt, der 1948 beschlossen wurde.
Hans H. Hanke schrieb dazu in der WAZ vom 31.10.1988:
Es sollte möglich werden, auf breiten, bequemen Bürgersteigen durch Grünanlagen bis an die Ruhr zu laufen, oder aber auf Radwegen diese Strecke zu fahren.
Die Bürgersteige sind zum Teil erhalten, das umfangreiche Radwegnetz der Innenstadt wurde ab 1959 zu Parkstreifen umgewidmet. … Am frühen Sonntagmorgen sind auf dem Westring die vierfachen Baumreihen und die Radwege noch zu sehen.
Umgewidmeter Radweg am Westring, Bochum ca. 1987.
(Pilotprojekt 1988, Seite 8)
Im Folgenden einige Ergebnisse aus der Magisterarbeit von Nevena Šešlija.
1954 ergab eine Verkehrszählung an der Kreuzung Dorstener Straße / Riemker Straße einen Verkehrsanteil von 25 % Radfahrern und 13 % Autoverkehr. Nur Fußgänger waren häufiger.
Im Ruhrgebiet dominierte zumindest bis 1960 im Berufsverkehr immer noch der Fußgänger- und Fahrradverkehr das Verkehrsbild. Ein Blick auf den Bestand an Kraftfahrzeugen im Ruhrgebiet zeigt allerdings, dass verstärkt ab 1959 ein starker Anstieg des individuellen Autoverkehrs zu beobachten war.
Dabei gab es damals im Ruhrgebiet nur halb so viele Autos wie im restlichen Nordrhein-Westfalen, obwohl die Bevölkerungsdichte etwa drei mal so hoch war. Noch 1960 war das Auto – besonders im Ruhrgebiet – »das Privileg einer kleinen Minderheit«.
Selbst wenn ein Auto vorhanden war, wurde es nicht für den Weg zur Arbeit genutzt. Demzufolge ist davon auszugehen, dass sich für die Arbeiter die Verwendung des Automobils für den Weg zur Arbeit mehrheitlich nicht lohnte.
»Wir haben es geschafft. Das Auto steht vor der Tür. Alle Nachbarn liegen im Fenster.«
Aus der Werbung für den Ford Taunus 1952
Der Besitz eines Pkw war wichtiger als seine tägliche Nutzung.
Im Vergleich dazu hatte der Fahrradbesitzer zunehmend das Image des armen Mannes, des Arbeiters und sogar des Proleten inne.
Erkennbar wurde das Fahrrad ab ca. 1955 in der Verkehrsplanung als Nicht-Fahrzeug behandelt, indem der Radverkehr aus dem Fahrzeugverkehr herausgelöst wird. Damit wird seine Bedeutung für den allgemeinen Verkehr nicht mehr deutlich.
Es ist zu erkennen, dass das Fahrrad als einziges Beförderungsmittel nicht zu den Fahrzeugen gezählt wurde, da die aufgeführten Fahrzeugzahlen sich aus der Summe der Krafträder, Pkws, Omnibusse, Lkws, Straßenbahnen und Fuhrwerke ergeben.
Die Radfahrer wurden mit den Fußgängern gleichgestellt und somit nicht in die Rechnung mit einbezogen. Dass unter den Begriff des Fahrzeuges nicht der Kraftfahrzeugverkehr gemeint sein kann, ist daraus ersichtlich, dass in die Addition auch die Straßenbahn und die Fuhrwerke mit einbezogen wurden. Durch diese begriffliche Zuordnung erfolgt auch ein Herauslösen des Fahrradverkehrs aus dem allgemeinen Verkehr. Zudem wird durch diese Separierung die Bedeutung des Fahrrades verschwiegen.
Bundesverkehrsminister Seebohm betonte noch 1964 das Fahrrad sei »nach wie vor das Verkehrsmittel Nr. 1 der großen Masse.«
Trotzdem wurde der Radverkehr in der Verkehrsplanung der 50er bis 70er Jahre weitestgehend ausgespart. Es wurde stets darauf verwiesen, dass es kaum noch Radfahrer gäbe. Das Fahrrad wurde auf seine Sport- und Freizeitrolle reduziert.
1960 gab es auch in Bochum so viele Radwege wie nie zuvor.
Danach wurden die Radwege zur Parkstreifen.
1978 schrieben die Ruhr-Nachrichten über Bochum: »Fahrradspuren werden primär als Abstellplätze für Autos genutzt.«
Der Geschaftsführer des Fachverbandes Fahrrad- und Kraftteile-Industrie 1989:
Wir haben zu beklagen, dass Fahrradverkehrsförderung, wenn überhaupt, nur halbherzig betrieben wird. Sobald der Autoverkehr zugunsten des Fahrrades eingeschränkt werden müsste, hört der Spaß auf.
Eine Kurzfassung der Arbeit: Das Fahrrad im Ruhrgebiet: Verschwiegen, verdrängt, vergessen – und wiederentdeckt.