(Bild: Bongardstraße, Bochum 1951. Stadt Bochum Bildarchiv)
Worauf ist es zurückzuführen, dass die Erinnerung an den Radverkehr im Ruhrgebiet vollständig aus dem kollektiven Gedächtnis verschwand?
Es ist tatsächlich mehr ein Verschwinden der Erinnerung als ein Verschwinden des Radverkehrs. Nur im südlichen Ruhrgebiet – etwa in Bochum – war das Fahrrad nach 1960 auch weitgehend von den Straßen verschwunden.
Die Jahrzehnte des Fahrradverkehrs
Der Siegeszug des Fahrrades begann um 1890 mit der industriellen Massenproduktion. Noch 1880 kostete ein Niederrad etwa 250-350 Mark. Bis 1914 hatte sich der Preis mehr als halbiert. Ein Fahrrad kostete nur noch 105 bis 115 Mark und wurde damit auch für Kumpel und Stahlarbeiter erschwinglich.
In der Zeit zwischen den Weltkriegen (1918-1939) war das Auto und auch der ÖPNV noch keine Konkurrenz.
Nach 1945 waren Fahrräder zunächst Mangelware. Clemens Massenberg plante den Wiederaufbau in Bochum noch mit Radwegen an allen wichtigen Straßen. Mit dem Wirtschaftswunder kam das Auto.
Ab 1949 gab es den VW Käfer, auch der wurde bis 1957 immer billiger. Die Autogerechte Stadt aus den USA wurde zum Paradigma.
Nach 1960 kam die Massenmotorisierung und die Verdrängung des Radverkehrs. 1962 kam der Opel Kadett aus Bochum, Radwege wurden zu Parkstreifen umgewidmet.
Die Fahrradkrise dauerte aber eigentlich nur von 1960 bis 1970.
1970 erreichte die Zahl der Verkehrstoten den Höchststand: 19.191 Unfallopfer allein in der alten BRD. 2023 waren es 2.830 im wiedervereinigten Deutschland. Nach 1970 bestimmten Unfallzahlen, Ölkrisen und die Umweltbewegung die Schlagzeilen. Der Spiegel titelte 1980: „Zurück aufs Rad“
1979 wurde der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club (ADFC) gegründet, 1986 der VCD.
In NRW gab es Pilotprojekte für mehr Fahrradverkehr, 1985 startete das „Pilotprojekt Radwege- und Beschilderungsplan Bochum“.
Nach 1990 begann der Kampf um Anerkennung, die AGFS NRW wurde als „Arbeitsgemeinschaft Fahrradfreundlicher Städte“ gegründet, die „Empfehlungen für Radverkehrsanlagen“ (ERA) erschienen 1995 und 2010 in Neuausgabe.
2010 gab es das „Stillleben A40“ auf der Autobahn und so viele Radfahrer im Ruhrgebiet wie seit Jahrzehnten nicht. Das Konzept „Radschnellwege“ wurde importiert, die Planung für den „Radschnellweg Ruhr“ (RS1) begann. Kopenhagen elektrisierte die Fahrradwelt. Es gab eine internationale Renaissance des Fahrrads.
Aber heute haben wir in Bochum immer noch dieselben Defizite wie seit 1960.
Im Folgenden eine Kurzfassung von Nevena Šešlija: Mobilität im Ruhrgebiet 1945-1990. Das Verschweigen der Drahtesel. Magisterarbeit, Historisches Institut, Uni Duisbug-Essen, 2012.
Der Siegeszug des Fahrrades
Zeitungsartikel in Deutschland, den Niederlanden, England, Frankreich und den USA sprechen in den 1890er Jahren vom „Siegeszug des Fahrrades“.
Zu Beginn der 1880er Jahre zählte ein gängiges Niederrad noch zu den Luxusgütern. Mit einem Preis von 250-350 Mark entsprachen die Anschaffungskosten einem halben bis ganzen Jahreseinkommen eines Beschäftigten. Die 1890er Jahre läuteten dann den Siegeszug des Fahrrades ein. Denn durch eine einsetzende inländische Massenproduktion und die Errichtung eines geeigneten Distributionsnetzwerks, durch die Eisenbahn, wurde ein rasanter Preisverfall ermöglicht. So konnte ein Niederrad 1914 bereits zu einem Preis von 105 bis 115 Mark angeboten werden, so dass sein Erwerb für die breite Masse möglich wurde. Durch die schlechte wirtschaftliche Situation sah die Bevölkerung in ihm ein Beförderungsmittel, dass sie von Straßen- und Eisenbahn unabhängig machte.
Das Fahrrad erschien als ein Beförderungsmittel, das eine neue Form der Fortbewegung ermöglicht. Gekennzeichnet durch Individualität, durch die Möglichkeit größere Distanzen zu überwinden und den Bezug zur Natur. Genau wie 50 Jahre später das Auto.
Das Rad aber untersteht keinem Fahrplan, es ist frei. Nicht folgt es dem allgemeinen Geleise, sondern auf tausend selbstgewählten Pfaden schweift es dahin. Zu jeder Stunde, nach allen Himmelsrichtungen führt er seinen Reiter. Er dient ganz und gar dem individuellen Bedürfnis; er trägt der unendlichen Vielfältigkeit des menschlichen Wollens und Strebens Rechnung. Die Persönlichkeit, die im großen Zuge verschwand, kommt auf dem Rad wieder zur Geltung. Darum war es die notwendige Ergänzung der Eisenbahn.
Benz, Philosophie des Fahrrads, 1900
Der wichtigste Vorzug für die Arbeiterschaft lag in der Wirtschaftlichkeit des Fahrrades als Beförderungsmittel. Anhand des Umstands, dass die Kosten für einen Fahrradkilometer im Mittel 0,47 Pfennig betrugen, lag die Bedeutung des Fahrrades für den Arbeiter im Vergleich zu den teuren öffentlichen Verkehrsmitteln auf der Hand.
Behördliche Unterstützung in Form der Errichtung von Radwegen setzte erst in den 1930er Jahren ein.
Das Kernargument der Befürworter des Radwegebaus ging dahin, dass durch die fortschreitende Motorisierung in Kombination mit dem starken Anstieg des Radverkehrs aus Gründen der Verkehrssicherheit eine Trennung zwischen Rad und sonstigem Verkehr notwendig sei.
Zudem sei das Fahrrad durch seine Wirtschaftlichkeit und Schnelligkeit sowie vor allem durch seinen geringen Flächenbedarf ein ideales Verkehrsmittel für den Berufsverkehr.
Das „Statistische Handbuch des Radverkehrs“ (1939) beinhaltete eine detaillierte Radverkehrszählung für das gesamte Reichsgebiet, aus der ersichtlich wird, dass trotz sehr hohem Fahrradverkehr die Länge der vom Reich zu unterhaltenden Radwege nur 2.640 km und die Länge der von den Provinzen zu unterhaltenden Radwege insgesamt lediglich 455 km betrug. Diesen Ergebnissen folgte eine Flut von Erlassen der zuständigen Reichs- und Landesbehörden, die eine Förderung des Radverkehrs zum Inhalt hatten. Doch letztlich wurden nur wenige Radwege gebaut.
Das Ruhrgebiet
Der Aufschwung des Ruhrgebiets zum Industriegebiet begann mit der um 1840 einsetzenden Großindustrialisierung. Das Ruhrgebiet avancierte binnen weniger Jahrzehnte zum größten Industriegebiet Europas. In gut fünfzig Jahren [bis 1895] versechsfachte sich die Bevölkerung.
Die Bergbauunternehmen begannen mit der Errichtung sogenannter Kolonien, möglichst nah an der Arbeitsstätte der Berg- oder Industriearbeiter. 1844 errichtete die Gutehoffnungshütte in Eisenheim bei Oberhausen die ersten Kolonienhäuser des Ruhrgebiets. Aber erst um 1890 setzte ein regelrechter Bauboom ein. Der rasante Aufschwung des Ruhrgebiets zum Industriegebiet führte zu einem Musterbeispiel städtebaulicher Fehlentwicklung. Das Problem war, dass sich die Verkehrswege des Güter- und Personenverkehrs in unterschiedlicher Richtung entwickelten.
Der Eisenbahnverkehr folgte in West-Ost-Ausrichtung der Ruhr, Emscher und Lippe zum Rhein. Durch die Nordwanderung der Arbeitsstätten wurde aber der Nord-Süd-Verkehr immer bedeutender für den Personenverkehr. Dadurch entstanden – teilweise bis heute bestehende – Defizite im Nord-Süd-Verkehr.
Der Großteil der im Ruhrgebiet Beschäftigten gehörte zur Arbeiterklasse, für die das Fahrrad aufgrund seiner wirtschaftlichen Vorzüge das wichtigste Verkehrsmittel war. Durch die Nordwanderung der Arbeitsstätten wiederum vergrößerten sich die Distanzen zwischen Wohn- und Arbeitsstätten, deren Überbrückung ,durch das Fahrrad ermöglicht wurde, Der mangelhafte Ausbau der Nord-Süd Verbindungen bedingte, dass,das Fahrrad für die von Süden nach Norden wandernden Bergarbeiter oft die einzige Alternative für den Weg zur Arbeit war.
Allein in der Zeitspanne von 1930 bis 1935 hat der Radverkehr an bestimmten Zählpunkten um 200 bis 350 % zugenommen.
Der „Generalverkehrsplan (GVP) für den Ruhrkohlenbezirk“ (Siedlungsverband Ruhrgebiet, SVR 1938) stellte fest:
Der größte Teil der Bergarbeiter erreicht seine Arbeitsstätte zu Fuß, was durch die Nähe der nördlich gelegenen Kolonien zu den jeweiligen Arbeitsstätten zu erklären ist.
Generalverkehrsplan für den Ruhrkohlenbezirk 1938
Größere Distanzen, wie bei den im Süden angesiedelten Bergarbeitern wurden mit dem Fahrrad zurückgelegt. Die öffentlichen Verkehrsmittel werden hingegen kaum und der Personenkraftwagen in keinem Fall für den Berufsweg genutzt. Der SVR beschreibt diesen Zustand als „Regelfall“ im Ruhrgebiet.
Darum hat der Siedlungsverband im Rahmen seiner Aufgaben für den Straßenverkehr von Anfang an die Anlage von Radwegen und ihre finanzielle Förderung als eine seiner dringlichen Aufgaben betrachtet.
Der SVR sah den mangelnden Radwegeausbau in der wirtschaftlichen Lage der Städte und Gemeinden begründet. Zudem sei es durch die dichte Bebauung des rheinisch-westfälischen Industriegebietes schwer, Radwege innerhalb der Ortschaften zu bauen.
Durch den kurz nach diesen Plänen eintretenden Zweiten Weltkrieg wurden die bestehenden Verhältnisse zunächst konserviert und mit einsetzenden Kriegsschaden verschlechtert.
Nach 1945
Gunter Ruwenstroh behauptete 1978 sogar, dass zwischen 1942 bis 1947, d.h. auch in den unmittelbaren Nachkriegsjahren, die einzige Periode gewesen sei, in der das Fahrrad das stadtbildprägende Verkehrsmittel war.
In den ersten Nachkriegsjahren konzentrierten sich die Tätigkeiten des SVR primär auf die Wohnungsbauförderung im Revier. Denn weit größer als die Zerstörung der Industrieanlagen war die der Wohnungen.
Die Bedeutung des Fahrrades für die Zechenverwaltung und somit auch für den Zechenbetrieb wird daran deutlich, dass die Zuteilung von Fahrrädern nach 1945 reglementiert wurde:
Die Verhandlungen mit den Fahrradfirmen in Bielefeld führten zu keinem Ergebnis, weil die gesamte Produktion von Dürkopp, Phönix und Görike von der Militärregierung für die Ruhrkohlen-Kontrolle beschlagnahmt ist.
Eine Studie in Dortmund ergab schon 1948: „Bezüglich der Verkehrsmittelwahl wird ausgeführt, dass von der Gesamtzahl der erfassten Bergarbeiter,3% die Eisenbahn, rund 8 % die städtischen Verkehrsmittel (Straßenbahn, Omnibus, Obus), rund 10 % den Privatomnibus nutzten und somit ca. 80% den Weg zur Arbeit zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurücklegten. Daraus ergibt sich, dass 1948 14 % aller Dortmunder Beschäftigten das Fahrrad für den Weg zur Arbeit nutzten.“
Der Wohnungsbau führte zu einer Abwanderung der Bevölkerung vom Kerngebiet zu den Außenbezirken der Städte und verursachte durch die weitere Strecke zwischen Wohnung und Arbeitsstätte erhöhten Berufsverkehr.
Eberhard Radicke prangert 1952 in seinem Werk „Radfahrwege in Städtebau und Verkehrsplanung„, ebenso wie seine Vorgänger der 30er Jahre an, dass der Anlage und dem Ausbau von Radwegen in der städtebaulichen Planung, insbesondere der Verkehrsplanung, nicht die notwendige Aufmerksamkeit gewidmet wird. Schließlich hätten alle Verkehrsteilnehmer – gleich ob Fußgänger, Radfahrer oder Autofahrer – gleiches Recht, die Straße zu benutzen. Er hebt hervor, dass die Anlage von Radfahrwegen ausschließlich den werktätigen Menschen diene, da der Fahrradverkehr einen wesentlichen Teil des Berufsverkehrs darstellte.
Die Dringlichkeit wird auch in den 1952 erschienenen „Richtlinien für die Planung von Radwegen“ hervorgehoben. Vor allem an Hauptverkehrsstraßen sei die Anlage bei genügend Platz „dringend notwendig„.
Tatsächlich hat das Radfahren im Ruhrgebiet, nicht zuletzt bedingt durch die besondere sozial- und industriegeschichtliche Rolle der Region, eine lange Tradition. Es ist deutlich zu erkennen, dass vor dem Zweiten Weltkrieg ein reger Radverkehr im Ruhrgebiet herrschte. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg muss der Radverkehr im Ruhrgebiet einen hohen Stellenwert gehabt haben.
Entscheidende Bestätigung fand diese Hypothese durch das durch den Siedlungsverband Ruhrkohlenbezirk erhobene Datenmaterial zur „Verkehrszählung an [schienengleichen] Plankreuzungen“ aus dem Jahr 1954.
Es existiert keine zeitgenössische Literatur, die sich explizit mit dem Radverkehrsaufkommen im Ruhrgebiet auseinandersetzt. Eine Nachfrage beim Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club e.V., dem Deutschen Fahrradmuseum, dem Radsportverband NRW o.V., dem Ruhr Museum, dem Ministerium für Wirtschaft, Energie, Bauen, Wohnen und Verkehr des Landes NRW, dem Historischen Archiv Krupp sowie beim Regionalverband Ruhr ergab, dass ein hoher Radverkehr im Ruhrgebiet nach dem Zweiten Weltkrieg dort jeweils nicht bekannt sei, dass diesbezüglich kein Datenmaterial existierte oder die entsprechenden Akten vernichtet wurden.
Der Atlas „Gesamtverkehrsplanung für den Ruhrkohlenbezirk II“ (SVR, 1956)
In diesem Atlas wird anhand ausgewählter Straßen gezeigt, dass sich das Radverkehrsaufkommen in den Jahren von 1930 bis 1952 verdoppelt hat. Zudem ist aus der zugehörigen Tafel zum Radverkehr ersichtlich, dass der Fahrradverkehr den Kraftfahrzeugverkehr zum Teil erheblich überschritt.
Obwohl aufgeführt wird, dass eine starke Belastung durch den Radverkehr an Industriezentren besonders auffallend sei und „Die Spitze im Fahrradverkehr […] morgens um 7 Uhr und nachmittags zwischen 17 und 18 Uhr“ liege, wird weder im Titel noch im gesamten Atlanten ein Zusammenhang mit dem Berufsverkehr hergestellt. Stattdessen wird unter dem Begriff des Berufsverkehrs primär der öffentliche Verkehr betrachtet. In den Ausführungen vom Joachim Gadegast zu der Verkehrszählung des Jahres 1952 wird der Fahrradverkehr sogar gänzlich außer Acht gelassen.
Dass der Grund für diese Nicht-Erwähnung des Radverkehrs nicht in der Tatsache begründet liegt, dass dem Radverkehr praktisch keine große Bedeutung mehr zukam, wird zum einen aus der entsprechenden Tafel im Atlas und zum anderen aus der „Denkschrift über den Ausbau der Radwege im Land Nordrhein Westfalen“ des Ministeriums für Wirtschaft und Verkehr deutlich. Das Ministerium weist ausdrücklich auf die Notwendigkeit des Ausbaus von Radwegen hin.
„Ein Millionenheer von Radfahrern“
Die ganzjährige Verkehrszählung des Jahres 1952/53 hat [ ] auf den Landstraßen eine gewaltige Steigerung des Radfahrverkehrs aufgezeigt. Weiter hat die Entwicklung des Verkehrs zu einer erheblichen Steigerung der Geschwindigkeiten der Kraftfahrzeuge auf den Straßen geführt. Obwohl die Radfahrer zu einem Millionenheer angewachsen sind, müssen sie sich den Fahrweg mit den Kraftfahrern teilen.
Denkschrift über den Ausbau der Radwege im Land Nordrhein Westfalen, 1953
Zu erkennen ist, dass die Hervorhebung der Bedeutung des Radverkehrs von der Denkschrift des Ministeriums (1953) über den Atlas des SVR (1956) bis hin zum Aufsatz von Joachim Gadegast (1959) kontinuierlich abnahm – während der Radverkehr auf einem hohen Niveau blieb.
(Nevana Šešlija übersieht, dass es sich bei der Verkehrszählung im Jahr 1954 um eine „Verkehrszählung an Plankreuzungen zwischen Straßen und Eisenbahnen im Ruhrkohlenbezirk“ – mit anderen Worten: um eine Zählung an beschrankten Bahnübergängen – handelt. In Bochum gab es davon 1952 genau sechs, vorgegeben durch die Lage der Zechen. Die Zahlen sind also nicht repräsentativ für den Gesamtverkehr.)
War Bochum die erste Autostadt im Ruhrgebiet?
Es ist deutlich zu erkennen, dass in fast allen durch die Verkehrszählung erfassten Städten ein reger Radverkehr herrschte.
(Laut Abb. 4 auf Seite 38 hat Bochum als einzige Stadt (neben Unna) einen sehr hohen Pkw-Anteil. Gezählt wurden sechs Kreuzungen Straße/Schiene. Das Verhältnis Pkw/Rad schwankt dabei zwischen 3,5:1 und 1:2,5. Durchschnittswerte sind da nicht aussagekräftig. Das Bild ist wahrscheinlich verzerrt durch die Nähe zur B1 Daraus wurde kurze Zeit später der Ruhrschnellweg.)
Gadegast (Verkehrsprobleme im Ruhrgebiet, 1959) führt auf, dass an manchen Plankreuzungen die Zahl der aufgehaltenen Fußgänger und Radfahrer die Zahl der aufgehaltenen Fahrzeuge bzw. die in den Fahrzeugen befindlichen Fahrgäste bei weitem überschritten.
Aber: Der Radverkehr wird bei ihm aus dem Fahrzeugverkehrs herauslöst durch die Deklarierung des Fahrrades als Nicht-Fahrzeug. Die Radfahrer wurden von ihm mit den Fußgängern gleichgestellt und somit nicht in die Rechnung einbezogen.
Bei einer detaillierten Auswertung des durch die Verkehrszählung an Plankreuzungen erhobenen Datenmaterials wird deutlich, dass 1955 nicht nur auf den wenigen von Gadegast aufgeführten Straßen, sondern vielmehr im gesamten Ruhrgebiet ein hoher Fahrradverkehr herrschte.
1960 war das Fahrrad vorn
Das Fahrrad (einschließlich Moped) war 1960 immer noch das meistgenutzte Beförderungsmittel. In Bezug auf die Reiselänge der jeweiligen Verkehrsmittel ergab sich des Weiteren, dass 90% der Fußgänger sich in einem Radius zwischen 0-2,5 km bewegen, 72,5 % der Radfahrer eine Entfernung zwischen 1,5-3,5 km und rund 82,5 % der Benutzer der öffentlichen Verkehrsmittel eine Entfernung zwischen 2-6 km zurücklegten.
Es wird ausgeführt, dass die nah beim Werk wohnenden Arbeiter ihre Arbeitsstätte größtenteils zu Fuß oder mit dem Fahrrad bzw. Moped erreichten und erst bei größeren Fahrweiten die öffentlichen Verkehrsmittel oder den Pkw nutzten.
Grundlegend ist zu erkennen, dass Gadegast bzw. der SVR als wesentlichen Bestandteil seiner Arbeit den Ausbau des öffentlichen Verkehrswesens gesehen und die Notwendigkeit desselben stets mit einer steigenden Motorisierung begründet hat. Das Problem an dieser Argumentation ist, dass die Zahlen ein anderes Bild zeichnen. Immer noch beherrschte der Fußgänger- und Radverkehr das Straßenbild.
In seinem ersten Aufsatz (1957) wertet Gadegast die Ergebnisse nüchtern aus. In dem Artikel von 1959 folgt seine Auswertung anderen Kriterien.
Während er 1957 die Verteilung der Beförderungsfälle auf die einzelnen Verkehrsmittel ausführt, summiert er 1959 einerseits die individuellen [Fahrrad, Moped, Motorrad, Pkw] und andererseits die öffentlichen Verkehrsmittel auf. Daraus ergibt sich ein prozentualer Anteil von 29,40 % für die individuellen (22,8 % Fahrrad und Moped, 6,6 % Pkw und Motorrad) und 28,8 % für die öffentlichen Verkehrsmittel (Bus, Straßenbahn, Bundesbahn). Bei einem Moped handelte es sich um ein Fahrrad mit Hilfsmotor.
Radfahrer: Manchmal Fußverkehr, manchmal Individualverkehr
Gadegast zählt den Fahrradverkehr also einmal zum Fußgängerverkehr, zum anderen aber zum motorisierten Individualverkehr (MIV). Durch diese Form der Darstellung geht der Fahrradverkehr unter.
Interessant ist, dass in dem Aufsatz von 1960 der Fahrradverkehr im Fließtext gar nicht mehr erwähnt wird, obwohl in den zwei zugehörigen Grafiken immer noch eine große Bedeutung des Fahrradverkehrs zu erkennen ist.
Das erste Säulenpaar jedes Verkehrsmittels zeigt die Ergebnisse des Jahres 1955, das zweite Säulenpaar diejenigen des Jahres 1960.
Die jeweils erste (schwarze) Säule gibt den Anteil des jeweiligen Verkehrsmittels
an den Beförderungsfällen, die zweite (gestrichelte) Säule den Anteil an der Beförderungsleistung (Personen-km) an.
Anhand der Grafik ist zu erkennen, dass der Berufs-Fahrradverkehr von 1950 bis 1960 sogar leicht gestiegen ist und unter den individuellen Fahrzeugen mit Abstand den höchsten Wert aufweist. Gleichzeitig ist der Fußverkehr zurückgegangen. (Allerdings nur nach Beförderungsfällen, nicht nach Personenkilometern: Mit Kraftfahrzeugen werden größere Entfernungen zurückgelegt, das Zeitbudget bleibt gleich.)
Die Intention des SVR lag wesentlich darin, die Bedeutung der öffentlichen Verkehrsmittel zu steigern und dadurch in der Konsequenz die Bedeutung des Fahrradverkehrs zu relativieren.
Vom Verschweigen zum Verdrängen
Der SVR hatte schon 1928 ein Radwegenetz für den engeren Industriebezirk aufgestellt. Es wurden in den folgenden Jahren der Verkehrsentwicklung entsprechend geändert und insgesamt auf 1200 km Länge bemessen… Diese Fragen waren in ihrem ganzen Umfang infolge des ausbrechenden 2. Weltkrieges nicht mehr einer praktischen Lösung zuzuführen. … Die riesige Motorisierungswelle in den 50er Jahren ließ das Problem des Erholungsverkehrs vornehmlich unter des Aspekt des Radwegebaus nicht mehr lösbar erscheinen.
Jubiläumsschrift des SVR, 1971
(Zwei falsche Aussagen in einem Satz:
1. Der Fahrradverkehr war primär Berufsverkehr (Weg zur Arbeit)
2. Die „Motorisierungswelle“ kam erst in den 1960ern.)
Die Realität sah deutlich anders aus. Das Fahrrad wurde werktags am häufigsten genutzt. Im Ruhrgebiet dominierte zumindest bis 1960 im Berufsverkehr immer noch der Fußgänger- und Fahrradverkehr das Verkehrsbild.
Wo blieb das Geld?
In sämtlichen Denkschriften der Gruppe Radwegebau werden jährlich Millionenbeträge aufgeführt, die in den Haushalten der Länder für die Errichtung von Radwegen vorgesehen waren und im Fall Nordrhein-Westfalens alle höher waren als die 1954 in der Denkschrift geforderten.
Bei einer genaueren Betrachtung wird jedoch deutlich,dass diese optimistischen und siegreichen Klänge nicht die Realität widerspiegelten.
Die Angaben lassen darauf schließen, dass die aufgeführten Millionenbeträge zwar bewilligt, allerdings nicht für den Radwegebau eingesetzt wurden. Dies war möglich, weil es sich nicht um zweckgebundene Mittel handelte.
In Nordrhein Westfalen sank die Zahl der Radwege-Kilometer an Bundesstraßen von 1957 bis 1959 sogar um rund 30 % von 1.127,7 km auf 765,1 km ab.
Dass der SVR den Fokus.auf die Förderung des Ausbaus des öffentlichen Netzes legte und das statistische Datenmaterial im Sinne dieses Zweckes auslegte, wurde bereits anhand der Ausführungen zu den Verkehrszählungen der Jahre 1952-1960 deutlich.
Dieser Sachverhalt gründet auf einer engen Zusammenarbeit zwischen dem SVR und den Nahverkehrsbetrieben, die bereits 1949 einsetzte. Der SVR pflegte nach eigenen Angaben eine „besonders enge Zusammenarbeit„.
Das Problem der Nahverkehrsbetriebe nach dem Zweiten Weltkrieg war, dass die Verkehrseinrichtungen in den Städten des Ruhrgebiets im großen Ausmaß zerstört oder beschädigt waren. Hinzu kam das bekannte, sich schließlich bis weit in die 70er Jahre, ziehende Problem, dass die Nord-Süd-Verbindungen im Ruhrgebiet nicht in ausreichendem Maße ausgebaut waren. Diese Defizite in der Verkehrsstruktur schien der größte Widersacher der öffentlichen Nahverkehrsbetriebe auffangen zu können, das Privat-Automobil.
Dagegen die Ausführungen von Enno Müller zum öffentlichen Verkehr im Ruhrgebiet (1965):
Die Planung von teuren Schnellstraßen hatte und würde Müllers Ansicht nach zu keiner Entlastung des Straßenverkehrs führen. Hinzu käme das Problem der Abstellmöglichkeiten für nicht benutzte Kraftfahrzeuge, das kaum lösbar erschiene.
Ein Blick auf den Bestand an Kraftfahrzeugen im Ruhrgebiet zeigt, dass erst ab 1955 und dann verstärkt ab 1959 ein starker Anstieg des individuellen Autoverkehrs zu beobachten war.
Vor allem in den Nachkriegsjahren überstieg der Bestand an Lastkraftwagen den der Personenkraftwagen. Bezogen auf die Fläche gab es im Ruhrgebiet von 1955 bis 1968 vier Mal mehr Lkw als in der Bundesrepublik und mehr als doppelt so viele wie im Land Nordrhein-Westfalen. Zwei Drittel des Lkw-Verkehrs waren Nahverkehr.
Kraftfahrzeuge im Ruhrgebiet (Abb. 10, Seite 54)
Am Vergleich der Bestandszahlen Nordrhein-Westfalens mit denen des Ruhrgebiet zu erkennen, dass sich im Ruhrgebiet lediglich halb so viele Autos befanden wie im restlichen Nordrhein-Westfalen, obwohl die Bevölkerungsdichte im Ruhrgebiet weitaus höher war als in den übrigen Landesteilen. So betrug die Bevölkerungsdichte des Ruhrgebiets im Durchschnitt 993 Einwohner je km² und stieg in Teilen der Kernzone bis auf rund 4000 Einwohner je km² an. Die Bevölkerungsdichte in Nordrhein-Westfalen betrug dahingegen im November 1950 im Durchschnitt 387 und im Bundesgebiet 194 Einwohner je km².
Berufsverkehrszählung des Jahres 1955
In dem Bericht findet sich der Verweis, dass der Grad der individuellen Motorisierung des Berufsverkehrs im Jahre 1956 noch nicht das Ausmaß erreicht hätte, das vielfach vermutet würde.
Demzufolge ist davon auszugehen, dass sich für die Arbeiter die Verwendung des Automobils für den Weg zur Arbeit mehrheitlich nicht lohnte.
Der Zeitgeist der 60er
Warum erfolgte bei der Wiederaufbauplanung und den Baumaßnahmen der Städte eine Bevorzugung des privaten Autoverkehrs, wenn die statistischen Zahlen belegten, dass das Automobil bis 1960 nicht das primäre Beförderungsmittel des Berufsverkehrs gewesen war und es sich bei dieser Form des Verkehrs um denjenigen handelt, der die Straßen am intensivsten belastete?
Noch fünf Jahre nach Kriegsende gab es weniger Pkws als 1938. Auch die Pkw-Bestände von 1,75 Millionen 1955 und 4,5 Millionen 1960 zeigen, dass der Besitz eines Personenkraftwagens damals noch das Privileg einer kleinen Minderheit war. Es ist also zu erkennen, dass weder im Ruhrgebiet noch in der Bundesrepublik die Motorisierung den Straßenausbau vorangetrieben hat.
(Der Traum vom Volkswagen allerdings war viel älter: Schon in den 1930ern gab es „Volkswagen“ von Ford und Opel – weit vor dem VW Käfer. Das Auto war ein Symbol für Wohlstand: Es musste sichtbar sein. Es wurde aber nicht für den Weg zur Arbeit genutzt.)
Symbol Auto und Vorbild USA
Der Kraftwagen ist neben dem Flugzeug zum genialsten Verkehrsmittel des Menschen geworden.
(Adolf Hitler 11.02.1933, IAA Berlin)
Das Auto wurde zum Symbol für Freiheit, Fortschritt und Individualität. Sein Besitzer wurde gefühlt „Herr über Raum, Zeit und über Fahrplan und Strecke“ er wurde zum ,,König Individuum„. Diese Idealisierung machte auch vor dem Städtebau nicht halt. Bereits vor dem Zweiten Weltkrieg wurde propagiert, dass die Stadtstraßen der Zukunft. dem Auto die Entfaltung seiner möglichen Geschwindigkeiten gestatten müssten. Die Straße sei kein „Kuhweg“ mehr, sondern eine „Verkehrsmaschine„.
Zu erkennen ist, dass die Argumentationsstruktur für das Auto eine gewisse Ähnlichkeit zu der des Fahrrades aufweist. Im Unterschied zum Fahrrad, dessen Propagierung während der nationalsozialistischen Herrschaft zum Erliegen kam, wurde das Automobil in viel stärkerem Maße zum Sinnbild einer ganzen Nation, das Wohlstand für alle bringen sollte. Das Auto wurde, diesmal vor dem Hintergrund des großen kapitalistischen Vorbilds USA, ein Sinnbild für bessere Tage, ein Symbol des erhofften Wohlstands.
(Der VW Käfer wurde von 1949 an jedes Jahr billiger. Von 5.300 DM bis hinunter zu 3.790 DM im Jahr 1957.)
Wir haben es geschafft: Das Auto steht vor der Tür. Alle Nachbarn liegen im Fenster und können sehen, wie wir für eine kleine Wochenendfahrt rüsten. Jawohl, wir leisten uns etwas, wir wollen etwas haben vom Leben dafür arbeiten wir schließlich alle beide, mein Mann im Werk und ich als Sekretärin wieder in meiner alten Firma.
Werbung für den Ford Taunus, 1955. zitiert nach SACHS, Wolfgang: Die Liebe zum Automobil, S. 82f.
Das Automobil wird damit Instrument zur Selbstbestätigung und -vergewisserung einer ganzen Generation, deren durch die Kriegsniederlage in Frage stehenden Fleiß und Rechtschaffenheit sich in dem Besitz eines Pkw ausdrückt.
Der Prestigecharakter der Pkw reichte so weit, dass von Bergbauarbeitern nicht selten ein Auto als Luxusgut und ,,Sonntagsvehikel“ angeschafft wurde, während für den täglichen Weg zur Zeche noch immer das Fahrrad genutzt wurde.
Im Vergleich dazu bekam der Fahrradbesitzer zunehmend das Image des armen Mannes, des Arbeiters und sogar des Proleten.
Exkurs: Die Kohlekrise im Ruhrgebiet begann schon 1958
Auch Anfang der 1950er Jahre war der Ruhrbergbau noch immer nicht in der Lage, die stetig wachsende Nachfrage nach Energie zu befriedigen. Zur Deckung der Energielücke wurden zusätzliche Steinkohlen sowie Öl importiert, zudem wurden Anreize zur Stimulierung der Erzeugung von Heizöl gesetzt. Parallel zu dieser Entwicklung begann Anfang der 1950er Jahre auch die Modernisierung des Ruhrbergbaus. Im Februar 1958 wurden auf den Zechen im Ruhrgebiet erste Feierschichten eingelegt, erstmals seit der Rüstungskonjunktur überstieg die Förderung die Nachfrage. In der zweiten Hälfte der 1950er Jahre hatte sich das Mineralöl auf dem deutschen Markt durch den Wegfall des Heizölzolls verbilligt, zudem war es zu einer Erschließung neuer Fördergebiete gekommen, und nach dem Ende der Suezkrise 1956 waren die Transportpreise stark gefallen. Zwischen 1957 und 1960 halbierten sich die Preise für Heizöl, während die gesunkenen Frachtraten auch die importiere amerikanische Steinkohle stark verbilligten. Waren 1957 noch 397.000 Menschen bei den Zechen an der Ruhr beschäftigt, waren es 1961 nur noch 296.000 und 1966 nur noch etwas über 200.000.
Die Bundesrepublik zahlte bis zum Jahr 1957 den Steinkohlebergwerken Subventionen, um einem befürchteten Kohlemangel entgegenzuwirken. Als die geförderte Kohlemenge die Nachfrage überstieg, wurde zeitweise auf Halde produziert. Am 31. Januar 1959 schloss als erste die Zeche Lieselotte in Bochum-Querenburg. Einen ersten Höhepunkt erreichte die Kohlekrise 1963, als dreizehn Zechen (Zeche Centrum, Zeche Dorstfeld, Zeche Fröhliche Morgensonne u. a.) geschlossen wurden und rund 10.000 Bergleute ihren Arbeitsplatz verloren.
Die Autolawine (1960-1970)
Erst mit Beginn der 60er Jahre kann von einer rasanten Motorisierung gesprochen werden.
Insbesondere durch die blendende Konjunktur in der Stahlindustrie und im Bergbau wurden hohe Gehälter ausgezahlt. Es konnte im Rahmen dieser Untersuchung keine Initiative von Bürgern gefunden werden, die sich in diesem Zeitraum für den Ausbau von Radwegen stark gemacht hätte.
Auch in der Presse wurde dieses Thema nicht diskutiert. Getrieben vom Wirtschaftswunder der 50er Jahre lautete die Parole „Wohlstand für Alle“ – und zwar mit dem Automobil.
Die Probleme, die durch eine steigende Motorisierung entstehen können, waren bereits bekannt, bevor sie in Deutschland tatsächlich auftraten. Allerdings ist die Konsequenz, die aus diesen zu erwartenden Problemen gezogen wird, nicht eine Regulierung der zu erwartenden Massenmotorisierung, sondern die Forderung nach hohen Investitionen zur Ausbesserung der vorhandenen Straßen sowie dem Bau neuer Straßen und Parkmöglichkeiten.
In den sechziger und siebziger Jahre wurde das Straßennetz um jeweils rund 50.000 Kilometer verlängert, wobei die größte Steigerung bei den Autobahnen stattfand.
Mit der rollenden Autolawine waren die Städte an alle Ecken und Enden überfordert.
Heiner Monheim, Rita Monheim-Dandorfer: Straßen für alle. Analysen und
Konzepte zum Stadtverkehr der Zukunft, Hamburg 1990, S. 21
(Die Tiefgarage unter dem Dr.-Ruer-Platz in Bochum Mitte ist „die älteste Tiefgarage ihrer Art“ in der gesamten Bundesrepublik Deutschland. Der Bau der Tiefgarage begann 1960. Eröffnet wurde die unterirdische Garage am 27. Oktober 1961.)
Der Radverkehr wurde in der Verkehrsplanung der 50er bis 70er Jahre weitestgehend ausgespart. Es wurde stets darauf verwiesen, dass es kaum Radfahrer mehr gäbe. Das Fahrrad wurde auf seine Sport- und Freizeitrolle reduziert. Der Fahrradverkehr wurde zum Stiefkind der Verkehrsplanung.
Die 1970er: Das Auto mordet unsere Städte
1971: Hans-Jochen Vogel, Oberbürgermeister von München: „Das Auto mordet unsere Städte“ (Stern vom 02.05.1971). Wiederholt warnte Hans-Jochen Vogel seinen Stadtrat, dass man mit jeder Milliarde für den Verkehrsausbau „unsere Stadt dem Tode näher bringt„. Den Kampf gegen die Überflutung durch Automobile gab Vogel nicht auf. Das ging so weit, dass er 1971 für den „Stern“ eine Serie schrieb, dessen erste Folge die motorbesessenen Landsleute geradezu anschrie: „Das Auto mordet unsere Städte„.
Vogel selbst fuhr lieber Straßenbahn als mit dem Dienstwagen.
(Hans-Jochen Vogel: Schlacht im Hofbräuhaus)
Die autogerechte Stadt
Der Begriff der ,,autogerechten Stadt“ leitet sich von dem gleichnamigen Werk des Architekten und Stadtplaners Hans Bernhard Reichow aus dem Jahr 1959 ab. Hervorzuheben ist, dass Reichow ein eigenes Kapitel zur Rolle der „Fußgänger und Radfahrer in der autogerechten Stadt“ verfasste, in dem er explizit auf deren Belange und die Notwendigkeit zur Errichtung von separierten Rad- und Fußwegen, vor allem vor dem Hintergrund der Unfallprävention, hinweist.
Der Deutsche Städtetag 1963
Mit der Anlage von Radwegen sind im allgemeinen auch Gefahren sowohl für den Radfahrer wie für den Fußgänger, aber auch für den neben dem Radfahrweg haltenden Kfz-Fahrer verbunden, wenn nicht im Querprofil der Straßen zwischen den Radweg und dem Straßenrand ein Sicherheitsstreifen [!] eingefügt ist.
Weder wurde der Radverkehr als verkehrsentlastendes Verkehrsmittel mitberücksichtigt, noch wurde hinterfragt, ob eine gezielte Steigerung des Radverkehrs zu einer Entlastung der Straßenverhältnisse hätte führen können.
Dagegen beschrieb der Diplomingenieur Hans-Adolf Goth in seiner Untersuchung über den Radverkehr (1960), dass neben dem Sicherheitsaspekt Radwege auch für einen flüssigeren Verkehrsfluss sorgten, als Verkehrsmittel zur Erschließung des Stadtrandgebietes und des Umlandes dienten und im Berufsverkehr genutzt werden könnten.
Die Gruppe Radwegebau betonte in der Denkschrift ,,Der Radverkehr aus der Sicht der Verkehrs-Sachverständigen“ (1965): im Bereich des Straßenbaus bestünde das Problem, dass die ,,Verwendung von Kraftfahrzeugen im erheblichen Maße dem Straßenbau vorangeeilt“ sei. Die Sicherheit des Individuums dürfe nicht dem Wunsch nach Schnelligkeit und Gewinn zum Opfer fallen. Der Fokus müsse gleichermaßen auf alle Verkehrsteilnehmer gerichtet werden.
Schon 1965 forderte die Gruppe Radwegebau separate Fahrstreifen für den Radverkehr, die breit genug sein müssten, dass „der Fahrradfahrer nicht durch das Öffnen von Türen haltender Kfz behindert“ würde. Indirektes Linksabbiegen wurde ebenfalls schon 1965 empfohlen als „am meisten verbreitet“.
Bundesverkehrsminister Seebohm betonte 1964 bei der Eröffnung der ,,Internationalen Fahrrad- und
Motorrad-Ausstellung“ in Köln, das Fahrrad sei „nach wie vor das Verkehrsmittel Nr. 1 der großen Masse.“ Im „Gesetz über Finanzhilfen des Bundes zur Verbesserung der Verkehrsverhältnisse der Gemeinden“ wurde der Radwegebau aber nicht als förderungsfähig aufgeführt.
Renaissance des Fahrrads ab 1965
Von der Mitte der 60er Jahre setzte eine regelrechte Renaissance des Fahrrades ein.
Nicht nur altbekannte Aspekte wie der niedrige Anschaffungspreis, die Langlebigkeit, Wartungsfreiheit und die positive Wirkung auf die Gesundheit wurden wiederentdeckt. Auch das durch das Fahrrad
entstehende Potential zur Verkehrsberuhigung und damit einhergehend der Minimierung von Begleiterscheinungen wie Verkehrsballungen und Straßenlärm rückten verstärkt ins Bewusstsein der Verkehrsteilnehmer.
Einen wichtigen Impuls für die Renaissance des Fahrrades gab auch die Ölkrise. Steigende Benzinpreise und Erfahrungen wie die autolosen Sonntage veranlassten manchen Nichtradler, hin und wieder das Auto stehen zu lassen.
Ausgelöst durch Willy Brandts Bundestagswahlkampf im Jahr 1961 und seine Forderung vom „blauen Himmel über der Ruhr“ war es das Ruhrgebiet, das den Anstoß zu einem gesellschaftlichen Umdenken lieferte.
War es zwischen 1960-1970 noch lediglich die erwähnte Forderung Willy Brandts, die die Titelseite des Magazins Der Spiegel schmückte, so erschienen zwischen 1970-1990 46 „Titelstorys“, die ein umweltbezogenes Thema beinhalteten. 1972 veröffentlichte der Club of Rome seinen Bericht über die „Grenzen des Wachstums“.
„Windschutzscheibenperspektive“
Vor der Massenmotorisierung war der Autoverkehr auf fast allen Straßen noch so geringen, dass die Fahrt mit dem Fahrrad sowohl bequem möglich, als auch sicher war. Erst als Ende der 50er Jahre die Motorisierung ein gewisses Maß überschritten hatte, wuchs die Konkurrenz um Verkehrsfläche zu
Lasten des Fahrradverkehrs.
Die Radwegeplanung wurde zum Stiefkind der Verkehrsplanung und musste mit minimalen Geldsummen auskommen. Teilweise wurden auch bestehende Radwege als Verkehrsfläche für das Auto zweckentfremdet. In Bochum wurden seit 1962 „Fahrradspuren primär als Abstellplätze für Autos genutzt.“ (Ruhr-Nachrichten, 1978)
Durch den Autoverkehr wurde das Radfahren immer gefährlicher, so dass der Anteil der Fahrradnutzer von den 50er zu den 60er Jahren von rund 50 % auf 40 % und in den 70er Jahren drastisch auf lediglich 10 % sank. In Bezug auf die Vernachlässigung des Fahrrades wurden vor allem seit den 70er Jahren die Verkehrsplaner als „Schuldige“ deklariert.
1977 stellte der Bericht über „Verkehrsbedingungen von benachteiligten Bevölkerungsgruppen als Leitgröße für eine zielorientierte Stadt- und Verkehrsplanung“ fest, der Besitz eines Automobils korreliere immer noch mit der sozialen Zugehörigkeit des Besitzers. Auch 1977 hatte nur ein Drittel der Bevölkerung (34%) unmittelbaren Zugriff auf ein Auto. Durch diesen einfachen Perspektivenwechsel wurde deutlich, dass eine Fokussierung auf den motorisierten Verkehr den gesellschaftlichen Verhältnissen nicht gerecht wurde und eine verstärkte Einbeziehung aller Verkehrsarten in Planungsprozesse notwendig war. Durch diesen Perspektivenwechsel gewann der Radverkehr wieder an Bedeutung.
Ohnehin „benachteiligte Bevölkerungsgruppen“, d.h. die ohne Chance auf ein Auto (Kinder, Jugendliche, Arbeiter, Zugewanderte, Frauen), seien auf das Fahrrad als alltägliches Hauptverkehrsmittel angewiesen. Die verkehrspolitischen Maßnahmen zu Lasten der Radfahrer haben sich also im Ergebnis sozial benachteiligend zu Lasten der in der Gesellschaft ohnehin weniger Privilegierten ausgewirkt.
In den ,,kontinuierlichen Erhebungen zum Verkehrsverhalten“ (KONTIV) von 1972 wurde das Verkehrsverhalten z.B. von Ausländern und allen Menschen unter 10 Jahren gar nicht berücksichtigt.
Avantgarde Fahrrad
Im Rahmen der Analysen auf der Suche nach möglichen Alternativkonzepten wurde auch das Fahrrad zum ersten Mal wieder als mögliches Nahverkehrsmittel diskutiert. Das Fahrrad wurde zur Modeerscheinung und wieder zum Symbol für Freizeit, Freiheit, Sportlichkeit und Jugendlichkeit.
In amtlichen Verkehrsstatistiken blieben die Radfahrer auf Unfallopfer beschränkt.
Objektiv wird durch die Studie KONTIV 1972 festgehalten, dass nur knapp 30 % aller Wege in Stadtregionen länger als 6 km waren, mithin für einen großen Teil des Stadtverkehrs der Aktionsradius des Fahrrades ausreichend war. Demzufolge war der Haupteinsatzbereich des Autos der Nah-, bzw. Stadtverkehr.
Der Bonner Staatssekretärs im Bauministerium Dietrich Sperling, der diese Forschungsergebnisse am 02.08.1978 der Öffentlichkeit präsentierte, führte aus, dass „in den dicht besiedelten Innenstädten das schnellste und flexibelste Verkehrsmittel von den meisten kommunalen Verkehrsplanern nahezu vergessen worden“ sei.
Obwohl die Renaissance des Fahrrades bereits Mitte der 60er Jahre entstand, belegen zeitgenössische Berichte, dass sich in der Verkehrsplanung nichts geändert hat. Das sich hier keine Veränderung einstellte, lag wesentlich darin begründet, dass die Richtlinien und Merkblätter, an denen sich die Verkehrsplaner orientierten, noch aus der Zeit vor dem erwähnten diesbezüglichen gesellschaftlichen Umdenken stammten.
Gunter Ruwenstroth weist in seinem Forschungsbericht außerdem darauf hin, dass die errichteten Radwege meist nicht nach dem vorhandenen Bedarf gebaut wurden, sondern nach den Gesichtspunkten des vorhandenen Platzes an den Straßen, den verfügbaren Mitteln und entsprechend der Einsicht der Verantwortlichen. (Fahrrad im Nahverkehr, 1978)
Außerdem hat nach Ruwenstroth die Flexibilität, die das Fahrrad bietet, bei mangelndem Platz oft zu Notlösungen geführt, welche für einen Kraftfahrer als nicht richtliniengemäß verworfen worden wären. So wurden Radfahrer über Treppen geleitet, an Kreuzungen durch Verkehrszeichen zum Absteigen aufgefordert, auf Fußwege geleitet oder streckenweise auf der Fahrbahn geführt. Solche Lösungen führten dazu, dass vor allem auf längeren Strecken das Radfahren unbequem, unsicher und zeitverzögernd war, was sich negativ und die Radnutzung auswirkte.
Heiner Monheim teilt diese Auffassung und führt aus, dass 1980 nur wenige Städte der Bundesrepublik einen halbwegs akzeptablen Radwegeanteil aufweisen konnten und der Bau von Radwegen oft nur eine Alibifunktion erfüllte. Dies sieht er darin begründet, dass Radwege meist in Vororten oder Erholungsgebieten gebaut wurden, wobei an diesen verkehrsarmen Orten eine Trennung der Verkehrsarten meist nicht erforderlich wäre. Dagegen wurden in den problematischen innenstadtnahen Gebieten kaum Radwege gefördert. Als Grund gibt Monheim an, dass die Planer den Konflikt scheuen, zugunsten der Radfahrer dem Autoverkehr Fläche zu entziehen.
(Heiner MONHEIM: Stadtverkehr mit dem Fahrrad, S. 15).
1989 berichtete Gerd Müller-van Issem, Geschaftsführer des Fachverbandes Fahrrad- und Kraftteile-Industrie e. V. auf dem ,,Kongreß zur wirtschaftlichen und ökologischen Bedeutung des Fahrrades“ am 23. August 1989:
Wir haben zu beklagen, dass Fahrradverkehrsförderung, wenn überhaupt, nur halbherzig betrieben wird. Sie kann nur erfolgreich sein, wenn sie dem Fahrrad mehr Verkehrsraum zu Lasten des Autos einräumt, nachdem dieses seit Jahrzehnten vorrangig bedient worden ist. Aber so bald der Autoverkehr zugunsten des Fahrrades eingeschränkt werden müsste, hört der Spaß auf. Radwege oder Fahrstreifen an den Rändern viel zu breit angelegter Straßen werden, wenn es nicht weh tut, schon mal angelegt. In den Kreuzungsbereichen, wenn Abbiegespuren wegfallen müssten, wodurch der heilige Verkehrsfluss verlangsamt würde, ist das Fahrrad ganz schnell wieder vergessen.
Anhand der Grafik ist zu erkennen, dass der Fahrradverkehrsanteil auch 1985 im nördlichen Ruhrgebiet mit 15-20 % noch relativ hoch ist und zum Süden hin allmählich bis auf 5 % absinkt. Hervorgehoben werden soll, dass Duisburg, also jene Stadt, die kontinuierlich das größte Radwegenetzt im Ruhrgebiet aufweist, als einzige Großstadt im Revier 1985 immer noch einen Radverkehrsanteil von 15-20 % aufzuweisen hatte. (Kreis Borken > 20 %, Gelsenkirchen und Recklinghausen 15-20 %, Bochum < 5%)
Ausgewählte Literaturangaben
HENNEKING: Der Radfahrverkehr. Seine volkswirtschaftliche Bedeutung und die Anlage von Radwegen, Magdeburg, 1927
SEIDENSTICKER, Wilhelm: Radwegeplanung unter besonderer Berücksichtigung des Ruhrgebietes, Bochum, 1937.
SCHACHT, Hans-Joachim: Statistisches Handbuch des Radfahrverkehrs. Im Auftrag des Generalinspektors für das deutsche Straßenwesen bearbeitet im Statistischen Reichsamt. (Schriftenreihe der Reichsgemeinschaft für Radwegebau e.V. Band 5), Berlin 1939.
Joachim Gadegast: Die Bedeutung des öffentlichen Verkehrs bei der Personenbeförderung im Ruhrgebiet, 1957 (Aufsatz)
Joachim Gadegast: Verkehrsprobleme im Ruhrgebiet, 1959 (Aufsatz)
Joachim Gadegast: Der Generalverkehrsplan für das Ruhrgebiet, 1960 (Aufsatz)
SVR: Siedlungsverband Ruhrkohlenbezirk 1920-1970. Jubiläumsschrift des SVR, 1971
Burkhard Horn: Der Motor diktiert, 1992 (Aufsatz)
GRUPPE Radwegebau: Der Radverkehr aus der Sicht der Verkehrs-Sachverständigen, 1965
Gunter Ruwenstroth: Forschungsprojekt Fahrrad im Nahverkehr, 1977
https://de.wikipedia.org/wiki/Kohlekrise
https://www.bpb.de/system/files/dokument_pdf/SR_10751_Abschied-Kohle_ba.pdf (S.104-116)