In Nevena Šešlija: Mobilität im Ruhrgebiet 1945-1990. Das Verschweigen der Drahtesel. Magisterarbeit am Historischen Institut der Uni Duisburg-Essen 2012 erscheint Bochum 1954 als die Stadt mit dem höchsten Pkw-Anteil – noch vor der Massenmotorisierung.
(Beitragsbild: Fahrradstau auf der A 40 in Essen. Stillleben A40 am 18.7.2010)
Nevena Šešlija hat dazu die „Verkehrszählung an Plankreuzungen zwischen Straßen und Eisenbahn im Ruhrkohlenbezirk“ ausgewertet. Am 01.07.1954 hatte der Siedlungsverband Ruhrkohlenbezirk (SVR) – Vorläufer des heutigen Regionalverband Ruhr (RVR) – eine Verkehrszählung an Bahnübergängen im Ruhrgebiet durchgeführt. Insgesamt wurden 144 Kreuzungen untersucht, sehr viele davon an kleinen Straßen. In der Hochzeit von Kohle und Stahl im Ruhrgebiet waren die Städte von einem engmaschigen Netz von Eisenbahnen, Industriegleisen und Privatbahnen durchzogen. Schon vor dem 2. Weltkrieg hatten sich die Kreuzungen Bahnen mit den Straßen als Unfallschwerpunkte herausgestellt. Der SVR wollte eine Grundlage für den Umbau der wichtigsten Kreuzungen schaffen. Dazu musste man herausfinden, an welchen Stellen der Fußgänger- und Fahrzeugverkehr am stärksten durch den Bahnverkehr gestört wurde. Also wurde über 24 Stunden hinweg genau gezählt.
Von 144 Kreuzungen hatten 36 mehr Pkw als Fahrräder, aber 108 Kreuzungen mehr Fahrräder als Pkw. Im Durchschnitt aller Kreuzungen war das Verhältnis 37,3 % Pkw und 62,7 % Fahrräder, also etwa 1,7 mal so viele Fahrräder wie Pkw. Der Extremfall war eine kleine Kreuzung in Bottrop, an der 382 Fahrräder, aber nur ein Pkw gezählt wurde: 382:1.
Die beiden Kreuzungen mit den meisten Pkw und den meisten Fahrrädern waren beide in Duisburg:
Duisburg, Düsseldorfer Str.: 7113 Pkw (44,3 %), 8955 Fahrräder (55,8 %), Summe 16068, Pkw/Rad 0,79, Rad/Pkw 1,26. Auch hier waren immer noch mehr Fahrräder als Pkw unterwegs.
Duisburg, Weseler Str.: 3741 Pkw (25,4 %), 10964 Fahrräder (74,6 %), Summe 14705, Pkw/Rad 0,34, Rad/Pkw 2,93.
Knapp 11.000 Fahrräder an einem Tag war für 1954 eine sehr hohe Zahl. In der Fahrradstadt Münster gibt es heute genau eine Zählstelle mit einem noch höheren Spitzenwert: Am Neutor zwischen Universität und Altstadt werden regelmäßig Jahres-Spitzenwerte von 23.000 Radfahrten binnen 24 Stunden registriert. Aber Duisburg hatte 1954 keine Universität und viel weniger Fahrräder. Oft gab es im Haushalt trotz vieler Kinder nur ein Fahrrad: mit dem fuhr der Vater zur Arbeit.
In Bochum wurde an sechs Kreuzungen gezählt. Den höchsten Pkw-Anteil gab es an der Essener Straße am Stahlwerk des Bochumer Vereins: 6168 Pkw (77,6 %), aber nur 1773 Fahrräder (22,4 %), Summe 7941, Pkw/Rad 3,48, Rad/Pkw 0,29.
Hier fuhren also mehr als drei mal so viele Pkw wie Fahrräder. Höhere Pkw-Anteile gab es nur im bergigen Ennepe und an wenigen anderen kleineren Kreuzungen. Wo kamen die Autos alle her?
An der Kreuzung der „Salzbahn“ mit der Dorstener Straße in Bochum war das Bild andersherum:
1002 Pkw, aber 1985 Fahrräder, also etwa doppelt so viele Fahrräder wie Pkw.
Wolfgang Welt erzählt in »Buddy Holly auf der Wilhelmshöhe«:
1958:
Der Papa kam vom Pütt, .. zu Fuß natürlich, Auto hatte man damals kaum, da konnten wir ja auch noch auf der Gerichtsstraße Fußball spielen. Und einmal die Stunde fuhr dann irgendwie ´n PKW her.Bevor die großen Zechenschließungen begannen, lagen die Pütt ja vor der Tür und man brauchte kein Auto, um zur Arbeit zu kommen, man konnte sich sowieso keins leisten, höchstens vom Steiger an aufwärts. Man wohnte ja auch in nahegelegenen Zechensiedlungen, wie zum Beispiel der Wilhelmshöhe, und ging nach der Arbeit natürlich nicht sofort nach Hause, sondern – Alkohol und Rauchen waren unter Tage strikt verboten – nach acht Stunden harter Maloche hatte man Durst.
Heute gibt es an den Fahrrad-Zählstellen in Bochum Jahresspitzenwerte von etwa 1.500 (Wittener Straße) bis zu 3.000 (Erzbahntrasse) Fahrrädern pro Tag.
Warum waren die Verhältnisse 1954 in der gleichen Stadt so verschieden?
Die Antwort liefert der Ruhrschnellweg
Vor dem Ausbau zum Ruhrschnellweg mit getrennten Richtungsfahrbahnen und planfreien Kreuzungen war die B1 (in Bochum: Darpering, Löbkerring) eine normale Straße mit einer Fahrbahnbreite von neun Metern für drei Fahrstreifen. Es waren also umfangreiche Bauarbeiten notwendig. Der erste Spatenstich zum Ausbau der Bundesstraße zum autobahnähnlichen Ruhrschnellweg erfolgte am 4. Januar 1954 im damals noch selbständigen Wattenscheid in der Nähe des Bahnhofs. Am 4. November 1955 wurde der erste Abschnitt des Ruhrschnellwegs zwischen Essen-Kray und der Stadtgrenze Wattenscheid / Bochum eröffnet. Die Grenze zwischen Wattenscheid und Bochum lag in Höhe des heutigen Autobahndreiecks Bochum West, da wo die Wattenscheider Straße in die Bochumer Straße übergeht.
Die Verkehrszählung am 1. Juli 1954 lag also zeitlich und räumlich mitten in den Bauarbeiten. Die B1 war nicht befahrbar und die Essener Straße die einzige Alternative. Der hohe Pkw-Anteil an der Kreuzung war also durch die Baustelle des Ruhrschnellwegs bedingt und nicht etwa typisch für Bochum.