Halb Mensch, halb Maschine: Das Fahrrad ist ein Hybridfahrzeug
Wenn man genau hinsieht, erklärt das hybride Wesen des Fahrrads (fast) alle Probleme des Fahrrads im Straßenverkehr.
Auch das Auto ist nicht auto-mobil. Das wäre erst ein autonomes Fahrzeug der Stufe 4: ohne Fahrer, ohne Lenkrad, ohne Pedale. Ein herkömmliches Auto, erfunden Ende des 19. Jahrhunderts, also weit nach dem Fahrrad, hat einen eingebauten Antrieb – den Motor – aber keine eingebaute Steuerung. Dafür ist immer noch der Fahrzeugführer verantwortlich, seit 135 Jahren und bis heute unverändert. Auto-mobil ist das Auto also nur im Hinblick auf den Antrieb. Auch bei einer Kutsche sind Antrieb und Steuerung bereits getrennt. Bei der Motorkutsche wurde nur das Pferd durch einen Verbrennungsmotor ersetzt.
Das Fahrrad hat weder einen eingebauten Antrieb, noch eine eingebaute Steuerung. Der Antrieb ist der Fahrer und umgekehrt. Beim Laufrad (Draisine) ist das unübersehbar. Ein Pedelec ist doppelt hybrid und nur deshalb ein Fahrrad, weil auch hier noch dasselbe Prinzip gilt: damit es fährt, müssen sich die Pedale bewegen. Und wenn zusätzlich der Motor läuft, ist auch der Antrieb selbst hybrid. Sonst wäre das Pedelec ein Kraftfahrzeug, wie ein E-Scooter.
Der Antrieb ist beim Fahrrad also biogen, genauso wie beim Fußgänger, der ja ein Selbstgänger ist. Alles basiert auf Muskelkraft. Bis heute die effizienteste Antriebsart.
Eine Portion Müsli reicht für 100 km. Nicht vergessen: den größten Anteil seiner täglichen Kalorien verbraucht der Mensch bereits, wenn er nichts tut. Beim Menschen macht der Ruheenergiebedarf etwa 50 bis 75 % des gesamten Energiebedarfes aus.
Das Fahrrad ist also biogen wie ein Fußgänger und ein Fahrzeug wie ein Auto. Im Prinzip kann ein Fahrrad überall da fahren, wo Fußgänger gehen können. Treppauf ist das allerdings anspruchsvoll. Rad fahrende Kinder müssen in Deutschland sogar da mit dem Rad fahren, wohin das Auto die Fußgänger verdrängt hat. Der Gehweg ist eine Erfindung des automobilen Zeitalters. Bis dahin war die Straße für alle da. Dann kam der Gehweg und der Radweg, die freigeräumte Fahrbahn beanspruchten die Autofahrer für sich. Paradox: In England darf kein Fahrrad auf den Gehweg. Auch Kinder müssen (theoretisch) mit dem Fahrrad auf die Fahrbahn.
Umgekehrt ist ein Fahrrad ein Fahrzeug, genauso wie ein Auto oder ein Handkarren, wenn er zu groß für den Gehweg ist. Die handgezogene klassische asiatische Rikscha ist ebenfalls ein Fahrzeug.
Dass Fahr-Zeuge auf der Fahr-Bahn fahren, dürfte also niemanden wundern. Problematisch wird es, wenn Radwege für Autofahrer gebaut werden. Das ist immer dann der Fall, wenn der Radweg nur den Zweck hat, die Fahrräder von der Fahrbahn zu bekommen. Die Qualität des Radwegs wird dann nicht vom Fahrrad her definiert sondern es gilt: Egal wie, Hauptsache Radweg und die Autofahrer sind zufrieden. Aus den 1960er und 70er Jahren sind noch viele Radwege dieser Machart übrig geblieben.
Das Problem kann nicht durch die Aufhebung der Benutzungspflicht gelöst werden. Für alle Radwege gelten die gleichen Anforderungen seitens der VwV-StVO, unabhängig von der Benutzungspflicht. Das wird in autofixierten Städten mit voller Kraft verdrängt. Und manche Autofahrer sind immer noch damit beschäftigt, Radfahrende von der Fahrbahn zu drängen, selbst wenn gar kein Radweg oder nur ein »anderer« Radweg ohne Benutzungspflicht vorhanden ist.
Das Konstrukt des Radwegs ohne Benutzungspflicht sollte den Status quo sichern, denn sonst hätte man praktisch alle Radwege neu bauen müssen, um Radwege für Radfahrer zu erhalten. Praktisch hat das dazu geführt, dass bei qualitativ unzureichenden Radwegen nur die Benutzungspflicht aufgehoben wird, statt den Radweg fahrradfreundlich neu zu gestalten oder ganz aufzuheben. Das ist zwar vorschriftswidrig, aber allgemeine Praxis. Eine Radweg-Benutzungspflicht darf nur angeordnet werden, wenn
»aus Verkehrssicherheitsgründen die Anordnung der Radwegebenutzungspflicht mit den Zeichen 237, 240 oder 241 erforderlich« ist.
(Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrsordnung (VvW-StVO), Randnummer 14 zu § 2).
Die in der VvW-StVO ausführlich dargestellten Anforderungen an Radwege sind für die Radfahrenden nicht einklagbar, sonst hätte Deutschland kaum noch Radwege.
Ändern könnte sich das angespannte Verhältnis zwischen den motorisierten und den anderen Fahrzeugführern durch einen zunehmenden Trend: Es gibt immer mehr Fahrräder mit drei oder vier Rädern. Für mehrspurige oder andere „sperrige“ Fahrräder gilt die Radweg-Benutzungspflicht nicht, weil die Radwege selbst im besten Fall nur für »normale« Fahrräder gebaut sind. Autofahrer müssen sich also zunehmend daran gewöhnen, dass auf der Fahrbahn Fahrzeuge unterwegs sind, die nicht schneller als 25 km/h fahren. Das führt dann schrittweise zu Tempo-30 für alle.
Früher war das Gewicht der limitierende Faktor bei den Fahrrädern. Wer kommt ohne Motorunterstützung mit einem zentnerschweren Fahrrad die Berge hoch? Heute können mehrspurige Cargo-Pedelecs über 100 kg wiegen und sind immer noch Fahrräder. Velomobile mit oder ohne Motorunterstützung sind eine andere Erweiterung des Konzepts.
»Die vorgegebenen Maße für die lichte Breite beziehen sich auf ein einspuriges Fahrrad. Andere Fahrräder (vgl. Definition des Übereinkommens über den Straßenverkehr vom 8. November 1968, BGBl. 1977 II S. 809) wie mehrspurige Lastenfahrräder und Fahrräder mit Anhänger werden davon nicht erfasst. Die Führer anderer Fahrräder sollen in der Regel dann, wenn die Benutzung des Radweges nach den Umständen des Einzelfalles unzumutbar ist, nicht beanstandet werden, wenn sie den Radweg nicht benutzen.«
Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrsordnung (VvW-StVO), Randnummer 23 zu § 2
Wer bestimmt die Geschwindigkeit?
Das Auto ist schneller als der Mensch. Das Fahrrad auch. Das Auto kann schneller und weiter fahren als ein Fahrrad. Aber nicht in der Stadt. Und das ist sehr ärgerlich für die Autofahrer. Viele ertragen es nicht, wenn sie sehen, dass sie nicht schneller sind als ein Fahrrad. Dann wollen sie wenigstens an der nächsten roten Ampel Erster sein.
Die meisten Menschen sind, wenn sie mit dem Rad fahren, nicht schneller als mit 20-30 km/h unterwegs. Nicht zufällig hat der Gesetzgeber die Höchstgeschwindigkeit von Mofas auf 25 km/h begrenzt. Mofas waren – wie der Name sagt – anfänglich Fahrräder mit Hilfsmotor, die auch ohne Motor, nur mit Muskelkraft, funktionieren mussten. Erst sehr viel später durfte dann der Pedalantrieb wegfallen. Umgekehrt war ein Moped (MOtor-PEDal) ein Motorrad mit Pedal-Hilfsantrieb für die Berge.
Die Motorunterstützung bei Pedelecs ist genau auf Mofa-Geschwindigkeit begrenzt.
Und auch bei Radschnellwegen und Velorouten rechnet man über längere Strecken mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 20-25 km/h, für die man auch schneller als 25 km/h fahren können muss, um Verzögerungen an Kreuzungen oder Konfliktstellen wieder auszugleichen.
Autofahrer, Busse und Straßenbahnen sind in der Stadt ebenfalls mit Fahrradgeschwindigkeit unterwegs. Oft sogar langsamer, wenn man die Zeit berechnet, die zwischen Start- und Zielpunkt liegt. Fahrräder haben keine Haltestellen und die Parkplatzsuche entfällt. Man muss mit dem Fahrrad nicht »um den Block« fahren und auch nicht den Rest des Weges zu Fuß gehen. Wenn ich Auto fahren will, fahre ich mit dem Fahrrad zur Tiefgarage.
Den Verkehr vom Menschen her denken
Also muss man den Verkehr vom Menschen her denken, nicht vom Fahrzeug her. Das Konzept der autogerechten Stadt hat es andersherum versucht und ist daran gescheitert.
Wenn Autos trotzdem bis heute die Städte dominieren, dann deshalb, weil die Autofahrer nicht für die Kosten des Autoverkehrs aufkommen müssen. Das entspricht dem Grundprinzip des Kapitalismus: Die Gewinne privatisieren, die Kosten externalisieren. Die Autofahrer werden also von den Fußgängern und Radfahrern subventioniert, sehen das aber nicht: »Zahl du doch erst mal Steuern« sagt der Autofahrer zum Radfahrer, als würde er mit seiner Kfz-Steuer – wenn er sie denn überhaupt bezahlt – die Kosten des Autoverkehrs finanzieren. Die Mehrwertsteuer zahlen sowieso schon alle.
Es gibt zaghafte Versuchen, an dem Tabu zu rütteln
Geografin Uta Bauer vom Deutschen Institut für Urbanistik (Difu): »Geparkte übergroße Autos versperren nicht nur die Sicht und verursachen Unfälle«, für sie werde auch der kostbare öffentliche Raum in dicht besiedelten Vierteln quasi verschenkt. Der für das urbane Leben der vielerorts autolosen Mehrheit benötigte Platz, etwa für sichere Radwege, ließe sich am einfachsten durch weniger dauerparkende Pkw gewinnen. Stockholm will Privatfahrzeuge ausdrücklich auf Privatgrundstücke verdrängen. Ein Bewohnerparkausweis kostet dort etwa 1.700 € pro Jahr. Verkehrsstadtrat Lars Strömgren bezeichnet das immer noch als riesige Subvention der Stadt an die Autobesitzer.
In Amsterdam gibt es in der Innenstadt lange Wartelisten für Bewohnerparkausweise. Und in Tokio gilt schon lange: Ohne Parkplatz kein Auto.
In der City of London kostete ein Parkplatz schon 2008 etwa 730 Euro im Monat – ohne die fällige City-Maut.
In Metropolen fährt man nicht Auto. Das beweist: Das Ruhrgebiet ist keine Metropole. Berlin schon.
Vision Zero
Wie viele Autofahrer werden jedes Jahr von Radfahrern totgefahren?
Richtig. Wer ernst machen will mit der Vision Zero muss den Verkehr vom Menschen her denken. Das steht schon in allen Gesetzen, die den Straßenverkehr regulieren, ist aber in den Köpfen noch nicht angekommen. Autofahrer müssten ja für jeden Fußgänger, ÖPNV-Nutzer und Radfahrer dankbar sein, denn sonst wären die Straßen noch mehr zugeparkt und die Staus noch länger.
In Großbritannien gilt seit Anfang 2022 eine neue Straßenverkehrsordnung, sie heißt dort »Highway-Code«. Die Vision Zero ist das erklärte Ziel und das Prinzip lautet folgerichtig: Je schneller und gefährlicher man unterwegs ist, umso mehr Verantwortung trägt man auch. Fußgänger können also sorgenfrei leben, Radfahrer müssen auf Fußgänger achten und Autofahrer auf alle anderen. »Es ist ein Konzept, das die Verkehrsteilnehmer, die im Falle einer Kollision am stärksten gefährdet sind, an die Spitze der Hierarchie stellt«, sagt der Highway-Code.
Einige der neuen Regeln gelten auch in Deutschland:
- Radfahrer und Radfahrerinnen dürfen nur mit einem Abstand von 1,5 Metern überholt werden.
- Radfahrer dürfen nebeneinander fahren.
Das ist auch in Deutschland erlaubt. Im Highway-Code wird es sogar ausdrücklich empfohlen. Radfahrer sollen nebeneinander fahren, wenn sie in größeren Gruppen unterwegs sind oder wenn sich Kinder oder weniger erfahrene Fahrer und Fahrerinnen in der Gruppe befinden.
In Deutschland steht die Vision Zero nicht in der Straßenverkehrsordnung, sondern nur in der Verwaltungsvorschrift.
In Artikel 1 der VwV-StVO: »Oberstes Ziel ist dabei die Verkehrssicherheit. Hierbei ist die ‚Vision Zero‘ (keine Verkehrsunfälle mit Todesfolge oder schweren Personenschäden) Grundlage aller verkehrlichen Maßnahmen.«
Die VwV-StVO kann man nicht einklagen. Absicht?
Eine Regel ist allerdings in England, Schottland und Wales viel strenger als in Deutschland:
Rule 64: »You MUST NOT cycle on a pavement.«
Man darf also keinesfalls auf einem Gehweg Rad fahren. Das schützt die Fußgänger. Theoretisch gilt das auch für Kinder. Aber Kinder bis zu zehn Jahren gehen straffrei aus. Die Eltern nicht.
Brauchen wir drei oder vier getrennte Straßenverkehrssysteme?
Davon kann man träumen. Mehr oder weniger erfolgreich wurde das auch schon umgesetzt, zumindest in Teilen. Stellen wir uns also eine Welt vor, in der die Autos komplett unter der Erde verschwunden sind, Fußgänger und Radfahrer ebenerdig aber getrennt unterwegs sind und der ÖPNV eine Etage tiefer fährt. U-Bahnen, Tiefgaragen, (Autobahn-)Tunnel usw. sind ja schon erfunden. Unterirdische Bahnhöfe auch.
Es kann nur keiner bezahlen. Die kostengünstige Sofortlösung heißt: Tempo-30 für alle.
Die zehn teuersten Parkplätze der Welt:
https://www.spiegel.de/auto/aktuell/die-zehn-teuersten-parkplaetze-der-welt-a-566264.html
The Highway Code (englisch);
https://www.gov.uk/guidance/the-highway-code/rules-for-cyclists-59-to-82
Children cycling on the pavement is illegal, but there is no criminal liability for children under the age of 10, and it is tacitly accepted by everyone that the pavement is where younger children will ride.
https://www.cyclinguk.org/article/cycling-guide/cycling-road-children