Das Konzept »Fahrradfreundliche Straße« demaskiert die Fahrradfeindlichkeit einer Autostadt.
In einer Autostadt sind die Straßen so selbstverständlich autofreundlich, dass niemand darüber redet.
In einer fahrradfreundlichen Stadt sind ebenso selbstverständlich alle Straßen fahrradfreundlich. Was denn sonst?
In den Regelwerken zum Fahrradverkehr gibt es keine »Fahrradfreundlichen Straßen«.
Wo gibt es »Fahrradfreundliche Straßen«?
Natürlich können Straßen fahrradfreundlich sein ohne als »Fahrradfreundliche Straße« herausgestellt zu werden. Auch Hauptverkehrsstraßen mit Radwegen nach ERA-Standard sind fahrradfreundlich.
Fahrradstraßen, »Fahrradfreundliche Straßen«, Tempo-30-Zonen und verkehrsberuhigte Zonen haben dagegen keine Radwege.
Explizit »Fahrradfreundliche Straße« werden Straßen genannt, die Fahrradstraßen sein könnten, aber nicht so ausgeschildert sind.
Der »Masterplan Fahrradstraßen Wien« sagt:
Rechtlich unterscheiden sich Fahrradstraßen und fahrradfreundliche Straßen darin, dass fahrradfreundliche Straßen nicht verordnet sind. Damit sind die Bestimmungen der StVO zu Fahrradstraßen hier nicht gültig: das Nebeneinanderfahren von Radfahrerinnen und Radfahrern ist daher nicht gestattet und die Zu- und Durchfahrt ist für Kfz rechtlich möglich, soll aber weitgehend unterbunden werden. Weiters erfolgt keine Kennzeichnung mit dem Verkehrszeichen Fahrradstraße. Bei der Gestaltung und den inhaltlichen Kriterien soll jedoch keine Unterscheidung zwischen fahrradfreundlichen Straßen und Fahrradstraßen gemacht werden.«
(https://radkompetenz.at/wp-content/uploads/2021/03/fahrradstrasse-auszug-endbericht.pdf)
Da fragt man sich natürlich, wozu der gesonderte Begriff »Fahrradfreundliche Straße« neben Fahrradstraßen überhaupt gebraucht wird – vor allem wenn die Beschilderung das einzige Unterscheidungsmerkmal ist.
Es gibt einen möglichen Grund: Laut Verwaltungsvorschrift zu Zeichen 244.1 und 244.2 StVO – Beginn und Ende einer Fahrradstraße – gilt:
»Die Anordnung einer Fahrradstraße kommt nur auf Straßen mit einer hohen oder zu erwartenden hohen Fahrradverkehrsdichte, einer hohen Netzbedeutung für den Radverkehr oder auf Straßen von lediglich untergeordneter Bedeutung für den Kraftfahrzeugverkehr in Betracht. Eine hohe Fahrradverkehrsdichte, eine hohe Netzbedeutung für den Radverkehr setzen nicht voraus, dass der Radverkehr die vorherrschende Verkehrsart ist. Eine zu erwartende hohe Fahrradverkehrsdichte kann sich dadurch begründen, dass diese mit der Anordnung einer Fahrradstraße bewirkt wird.«
Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrs-Ordnung (VwV-StVO)
Allerdings macht der letzte Satz besondere »Fahrradfreundliche Straßen« auch wieder überflüssig.
Fahrradstraßen zweiter oder dritter Klasse
Im allgemeinen ist von fahrradfreundlichen Straßen die Rede, wenn fahrradfreundliche Hauptverkehrsstraßen und Fahrradstraßen gleichermaßen gemeint sind. Gemeinsam ist dann der hohe Anspruch an die fahrradfreundliche Gestaltung der gemeinten Straßen.
Aber es gibt einen zweiten – lieber nicht genannten – Grund:
Manche Städte führen die Konstruktion »Fahrradfreundliche Straße« ein, um die Ansprüche an Fahrradstraßen unterlaufen zu können.
Dann werden »Fahrradfreundliche Straßen« zu Fahrradstraßen zweiter oder dritter Klasse. Und das ist eben nicht fahrradfreundlich, sondern autofreundlich: Man kann mehr verkehrsbehindernde oder – gefährdende Parkmöglichkeiten auf der Fahrbahn erhalten. Die Autostadt Bochum geht genau so vor.
Münster: Fahrradstraße 2.0
Im Gegensatz dazu hat die Stadt Münster – die mittlerweile kämpfen muss, um ihrem Anspruch als »Fahrradhauptstadt« zu verteidigen – die Fahrradstraße 2.0 eingeführt.
Fahrradstraßen gibt es in Münster schon seit über drei Jahrzehnten: 1990 wurde im Rahmen des Modellvorhabens »Fahrradfreundliche Städte und Gemeinden in Nordrhein-Westfalen« die Schillerstraße als erste Fahrradstraße in Münster ausgewiesen. Bochum hat sich dem – trotz Modellprojekt – über dreißig Jahre lang verweigert.
2019 hat Münster neue Qualitätsstandards für Fahrradstraßen in Kraft gesetzt. Seit 2024 gibt es dort innerstädtisch die »Fahrradstraßen Plus«:
Für die bestehenden und die geplanten Fahrradstraßen ist eine Fahrgasse von mindestens vier Metern Breite vorgesehen. Da zu breite Fahrgassen zu erhöhter Geschwindigkeit des Kfz-Verkehrs führen, soll die Fahrgassenbreite maximal fünf Meter zuzüglich Sicherheitstrennstreifen zu parkenden Kfz betragen. Das Parken wird nach dem neuen Konzept häufig nur noch auf einer Straßenseite möglich sein und teilweise sogar beidseitig entfallen müssen. Komfort und Sicherheit profitieren entscheidend, wenn die Radfahrenden mehr Platz bekommen. Gleichzeitig ergibt sich ein Mehr an Lebens- und Aufenthaltsqualität für die Anwohnerinnen und Anwohner.
https://www.stadt-muenster.de/verkehrsplanung/mit-dem-rad/fahrradstrassen
Weitere Merkmale der Fahrradstraße 2.0:
- Gerade weil einige Fahrradstraßen vom Kfz-Verkehr als Schleichwege genutzt werden, ist zu prüfen, ob der Kfz-Verkehr eingeschränkt werden kann. So könnten die betreffenden Fahrradstraßen nur für den Anliegerverkehr freigegeben oder Sackgassen sowie Einbahnstraßenregelungen eingeführt werden.
- Die Verkehrsteilnehmenden auf der Fahrradstraße sollen gegenüber einmündenden Straßen Vorfahrt haben.
- Bei Fahrradstraßen „Plus“: Nur die Fahrgasse (ausgenommen Sicherheitstrennstreifen und Parkstände) wird flächig rot eingefärbt, zusätzlich werden die Einmündungsbereiche zur Erhöhung der Aufmerksamkeit markiert und gegebenenfalls durch gestaltete „Tor-Situationen“ (z. B. Aufpflasterungen, beidseitige Inseln) hervorgehoben.
Velorouten in Bochum
In Bochum wird zurzeit (April 2024) die als »Veloroute« geplante Alternativstrecke zur Herner Straße zwischen Innenstadt (Radkreuz) und Riemke Mitte diskutiert.
Das Konzept »Veloroute« wurde schon in den 1980er Jahren entwickelt – wie der Name vermuten lässt, in der Schweiz. In Bochum gibt es das Konzept erst seit einem Jahr.
Laut dem Radverkehrskonzept der Stadt Bochum können Fahrradstraßen eine geeignete Führungsform auf Velorouten sein. Die Ansprüche des Bochumer Radverkehrskonzepts (RVK) an Velorouten gehen aber über Fahrradstraßen weit hinaus:
Es soll möglich sein, auf Velorouten »entspannt nebeneinander« zu fahren und eine Reisegeschwindigkeit wie auf Radschnellwegen zu erreichen. Das setzt selbstverständlich eine durchgehende Trennung von Fuß- und Radverkehr voraus. Ebenso eine freie Fahrbahnbreite, die auch im Gegenverkehr das Fahren nebeneinander erlaubt. Wenn Autos auf der Fahrbahn parken, erfordert das eine Fahrbahnbreite – von Bord zu Bord gemessen – von etwa acht Metern (2,10 + 0,75 +2,10 + 0,5 + 2,0 + 0,50 m). Dazu kommen noch Gehwege von 2,50 m Breite ab Bordstein. Velorouten sollen und dürfen ja Fußgänger und radfahrende Kinder nicht diskriminieren. Das ist eine lobenswerte und engagierte Zielsetzung.
Die Veloroute #1 ist der Prüfstein, ob Bochum sein Radverkehrskonzept vom Mai 2023 bestätigt oder gleich im Ansatz entwertet.
Die Bezirksvertretung (BV) Mitte hat sich zuerst mit der geplanten Veloroute beschäftigt und – nicht bindend für den Rat – einige interessante Beschlüsse gefasst:
2. Folgende Straßen werden unabhängig vom Straßenquerschnitt eine fahrradfreundliche Straße: – Lessingstraße – Constantinstraße – Neidenburgerstraße – Moritzstraße – Auf der Markscheide.
Bezirksvertretung Mitte, Protokoll der 29. Sitzung https://bochum.ratsinfomanagement.net/sdnetrim/UGhVM0hpd2NXNFdFcExjZUJWl0g5SlFHDdeyKS93zS6zkm1_1imSIfO6NWEZRM_b/Oeffentliche_Niederschrift_Bezirksvertretung_Bochum-Mitte_29.02.2024.pdf)
3. Für die Agnesstraße wird die Verwaltung mit einer ergebnisoffenen Prüfung beauftragt,
ob dieses Teilstück als fahrradfreundliche Straße oder als Fahrradstraße angelegt wird.
Was sind im Bochumer Radverkehrskonzept »fahrradfreundliche Straßen«?
Das RVK definiert fahrradfreundliche Straßen im Abschnitt 4.1.7.:
Auf Straßen mit geringen Verkehrsbelastungen können fahrradfreundliche Straßen mit einem geringeren Ausbaustandard eingerichtet werden. Der Ausbau kann dadurch kurzfristig erfolgen. Die Straße soll nach Möglichkeit Vorfahrt an Knotenpunkten sowie rote Markierungen und Fahrradpiktogramme, jedoch keine Beschilderung als Fahrradstraße erhalten. Als weitere Unterstützung kann ein durchlaufendes Band entlang der Straße markiert werden. Diese Maßnahme wäre ohne den Wegfall von Parkmöglichkeiten und einer Umgestaltung des Straßenquerschnitts möglich. Dadurch ist der Umsetzungshorizont deutlich kurzfristiger als bei offiziellen Fahrradstraßen.«
(RVK Seite 23)
und erklärt zusätzlich:
Die fahrradfreundlichen Straßen stellen nur eine kurzfristig umsetzbare Übergangslösung dar und sollen mittel- bis langfristig in Fahrradstraßen umgebaut werden.«
(RVK S. 80)
Bochum missbraucht das Konzept also explizit, um minderwertige Fahrradstraßen zu ermöglich und das auch noch auf Velorouten, die laut RVK viel höheren Ansprüchen genügen müssen.
Der Beschluss der Bezirksvertretung Mitte widerspricht also dem RVK schon im Ansatz
Aus einer »kurzfristig umsetzbaren Übergangslösung« wird eine dauerhafte »Lösung« zur Rettung des gewohnten Fahrbahnparkens auf den genannten Straßen.
»Fahrradfreundliche Straßen« sind für die Bezirksvertretung Mitte also zuallererst Parkplätze. Das Protokoll der BV Mitte vermerkt dazu:
Der Beschluss wurde gefasst »nach den zahlreichen Wortmeldungen der Herren Schneider, Krömling, Schnell, Kuberski, Ratajczak und Frau Dewender zum möglichen Wegfall von Parkplätzen für den motorisierten Individualverkehr und der möglichen Streckenführung« und weiteren Erläuterungen.
Hier können Radfahrer nebeneinander fahren, bei Kfz-Gegenverkehr wird es schon knapp.
Und: Kein Fahrzeug parkt auf der Fahrbahn. Der notwendige Sicherheitstrennstreifen zu den Parkbuchten fehlt. Die Gehwege sind zu schmal. Schon diese Visualisierung zeigt also keine fahrradfreundliche Straße, sondern die ganz alltägliche Verkehrsgefährdung.
Fazit: Eine »Veloroute« über eine »fahrradfreundliche Straße« ist keine Veloroute.
Aber auch davon noch einmal abgesehen:
Wozu braucht man speziell »fahrradfreundliche Straßen«, wenn doch Fahrrad fahrende Menschen – gleich ob Erwachsene jeder Art oder Kinder – gleichberechtigte Teilnehmer im Straßenverkehr sind? Das ist doch schon vom Grundgesetz Artikel zwei und der Straßenverkehrsordnung Paragraph eins garantiert.
Daraus folgt unausweichlich, dass jede Straße fahrradfreundlich sein muss – von Autobahnen und Kraftfahrzeugstraßen einmal abgesehen. Die »Vision Zero« ist kein hehres Ziel sondern ein Gebot des Grundgesetzes und infolgedessen der Straßenverkehrsordnung.
Wenn also jetzt »fahrradfreundliche Straßen« in Bochum besonders herausgehoben werden, wird die allgegenwärtige Diskriminierung des Fahrradverkehrs offensichtlich. In anderen Zusammenhängen würde man hier von strukturellem Rassismus sprechen.
Das ist die eigentlich interessante Aussage der Bezirksvertretung Mitte.
Ich bin gespannt, ob sich der Rat der Stadt Bochum diese systematische strukturelle Diskriminierung zu eigen macht.
Hier zeigt sich, ob das Radverkehrskonzept mehr ist als nur schöner Schein im Hinblick auf die Kommunalwahl im Jahr 2025.
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