Wittener Straße 101 – Eine unendliche Geschichte?

Wittener Straße 101 am 26.04.2011

Wittener Straße 101 am 26.04.2011 – damals wie heute

Vorgeschichte – Beschwerden – Anträge – Aktionen – Unfall – Verkehrsversuch – Widerspruch – Klage

Die schienenfreie Innenstadt – ein Konzept aus den 1960ern

Die schienenfreie Innenstadt ist ein Konzept, das in Frankfurt am Main ab etwa 1960 verfolgt wurde, um dann 1986 spektakulär am Widerstand der Öffentlichkeit und der Genehmigungsbehörden zu scheitern. Der damalige Konflikt erregte bundesweites Interesse und gehört zu den heftigsten verkehrspolitischen Konflikten der deutschen Nachkriegsgeschichte.
Die Verkehrspolitik der Stadt orientierte sich einseitig an den Bedürfnissen des Straßenverkehrs, neben dem Bau zahlreicher Stadtautobahnen sollte die Herausnahme der Straßenbahn aus bestehenden Hauptstraßen dazu beitragen, den Kraftfahrzeugverkehr zu beschleunigen. Die künftigen Netze von U-Bahn und S-Bahn, deren offene Baugruben zu dieser Zeit Stadtbild und Verkehr zusätzlich belasteten, sollten die Straßenbahn mittelfristig völlig ersetzen. Nach der aus den frühen 1960er Jahren stammenden Planung sollte bereits die erste Ausbaustufe die Innenstadt vom »schienengebundenen Oberflächenverkehr« (d. h.: der Straßenbahn) befreien. [1]

Anders in Bochum: Am 29. Januar 2006 wurde die Innenstadt schienenfrei.

Der Stadtbahnhof Lohring an der Wittener Straße wurde am 29. Januar 2006 eröffnet, nach über acht Jahren Bauzeit. 92 Millionen DM hat allein der 860 Meter lange Tunnel von der Wittener Straße zum Rathaus damals gekostet. Ohne den Neubau würden die Stadtbahnen 302, 310, 305 und 306 wohl noch immer oberirdisch fahren – und dies 16 Mal pro Stunde in beide Richtungen. Insgesamt würde also 32 Mal pro Stunde – oder im Schnitt alle 110 Sekunden – eine Bahn den Bereich durchfahren. „Die Auswirkungen auf Fußgänger und Radfahrer wären eher negativ“, so der Stadtsprecher.
Der Tunnel war Voraussetzung für das Prestigeprojekt Boulevard, auf dem ursprünglich nicht einmal mehr Busse fahren sollten. Symbolisch für den Vorrang des Autoverkehrs steht das „Blaue Loch“, das den Autoverkehr in die Innenstadt verschlingen sollte. Dazu musste die Wittener Straße vierstreifig sein. [2,3]
Der barrierefreie Zugang zum Stadtbahnhof per Aufzug führte zu der Engstelle auf dem Gehweg der Wittener Straße vor dem Haus Nr. 101. Der Ampelmast für die Bedarfsampel steht mitten im Weg. Der Gehweg ist in der Folge zu schmal und ein Radweg nicht möglich – sollte man denken.

Fahrradverbot dank A43

Am anderen Ende der Wittener Straße war 1971 das unvollständige Autobahnkreuz Bochum/Witten mit der Anbindung der A43 und A44 an die Wittener Straße gebaut worden. Einzige Verbindung zum Außenring (NS7, Sheffieldring, später A448) war die Wittener Straße.
Daher stammt das einzige Fahrradverbot auf einer Bochumer Radialstraße, zuerst nur in Richtung Zentrum, dann 2013 auch noch auf die Gegenrichtung ausgeweitet. Bis heute hält die Stadt Bochum unbeirrt daran fest, obwohl mit Millionenaufwand die Opel-Spange gebaut wurde, die das Autobahnkreuz Bochum/Witten vervollständigt und die Wittener Straße entlastet. Die Planung hatte so lange gedauert, dass Opel bis zum Bau bereits aus Bochum verschwunden war und das fehlende Autobahnstück in Querspange umbenannt wurde. [4]

Konsequent war dann auch, dass die neue Brücke über den Sheffieldring (2015-2017) mit großem Aufwand und voller Absicht ohne Radwege gebaut wurde. [5,6]

Martin Krämer (Radwende): „Das ist ärgerlich und muss schnellstens geändert werden.“ Allerdings müsse nicht nur die Brücke, sondern die gesamte Straße mit einem Radweg ausstattet werden. Dafür seien keine großen Investitionen nötig, wenn auf eine durchgehende Vierspurigkeit der Straßen verzichtet sowie das Teilstück Mark51/7 bis Ümminger Straße für den Radverkehr freigegeben werde.

WAZ Bochum, 29.10.2019 [7]

ADFC und Radwende haben erfolglos protestiert.

Der »Radweg« an der Wittener Straße 101

Der insgesamt knapp 200 Meter lange »Radweg« an der Wittener Straße 101 ist das einzige Stück Radweg auf dem vier Kilometer langen Abschnitt der Wittener Straße Richtung Bochum.
Ich hatte schon am 14. März 2021 beantragt, den Radweg wegen Verkehrsgefährdung aufzuheben – mehr als zwei Jahre vor dem dramatischen Unfall an genau dieser Stelle.

Wittener Straße 101 mit Gehweg und Radweg. Foto vom 15.11.2020.

Ich habe die Stadt Bochum gefragt:
»Wo ist hier der Gehweg? … Gibt es einen Hinterausgang, über den die Bewohner das Haus verlassen können oder machen sich die Bewohner täglich strafbar?«
Bereits damals hatte ich auch auf das Problem Linksabbiegen hingewiesen:
»Außerdem gibt es an der Kreuzung Lohring für Radfahrer keine Möglichkeit, nach links in den
Steinring abzubiegen.«
Auf der Fahrbahn war und ist das nach der längst überfälligen Entfernung der Gleise im gleichen Jahr problemlos möglich.
»Ich sehe keine andere Möglichkeit das Problem zu lösen als die Aufhebung des Radwegs. Selbst für
die Beschilderung „Gehweg, Radfahrer frei“ ist der Platz nicht ausreichend.«

In der Beschlussvorlage 20220053 zu meinem Antrag wurde das Problem anerkannt – und in eine unabsehbare Zukunft verschoben:

»Die Anregung wird positiv zur Kenntnis genommen und der beschriebene Handlungsbedarf anerkannt. Bei einer künftigen baulichen Umgestaltung der Wittener Straße wird eine nicht zu beanstandende Fuß- und Radverkehrsführung angelegt.«

Eine »bauliche Umgestaltung« der Wittener Straße ist bis heute nicht absehbar. Da der Stadtbahnhof erst 2006 eröffnet wurde, kann man wohl vor 2050 nicht mit einer Lösung rechnen. Woher sollte denn der benötigte zusätzliche Raum kommen, wenn man nicht die Häuser am Straßenrand abreißt oder den Stadtbahnhof?

Im Ergebnis muss festgestellt werden, dass im aktuellen baulichen Bestand keine rechtlich einwandfreie Veränderung der bereits bestehenden Situation vorgenommen werden kann. Insofern sind die in der Anregung gestellten Fragen treffend, können aber nicht abschließend beantwortet werden. Um zu einer rechtlich einwandfreien und den aktuellen Regularien in allen Punkten entsprechenden Verkehrsführung zu gelangen, müsste in jedem Fall eine bauliche Umgestaltung des Verkehrsraumes vorgenommen werden.

Beschlussvorlage 20220053 [14]

Das Argument »bauliche Umgestaltung« stammt schon aus der Beschlussvorlage 20170529 vom 24.02.2017.
Ich hatte für den ADFC Bochum schon 2016 im Zusammenhang mit dem Neubau der Brücke Wittener Straße beantragt, »dass der Rat der Stadt Bochum das Tiefbauamt bindend beauftragt, eine fußgänger- und fahrradfreundliche Planung für die Wittener Straße als Teil des geforderten Cityradialenkonzeptes vorzulegen.«

Die Verwaltung stellte 2017 dazu fest:

Die einzige Möglichkeit Radverkehrsanlagen einzuplanen bestünde, wenn man einseitig eine Häuserzeile abreißen würde.

Beschlussvorlage 20170529

Die Lösung für das Problem kann man also nur auf der Fahrbahn finden. Aber der Elefant im Raum ist in der Beschlussvorlage – wie immer – unsichtbar.
Im Bereich Mark 51°7 wird die Lösung dagegen umgesetzt: Der Raum für den MIV wird durch einen schmaleren Fahrstreifen eingeschränkt. So entsteht der notwendige Platz für den Radweg.

Vor Haus Nummer 101 wurde in der Folge nicht einmal das Schild, das den Gehweg als benutzungspflichtigen Radweg ausweist, abmontiert.

Sachzwang und alternativlose Benutzungspflicht?

Die Begründung für die Beibehaltung der Benutzungspflicht ist zukunftsweisend:
Dem baulichen Radweg vor Haus Nummer 101 geht ab der Nordstraße ein etwa 60 Meter langer Radfahrstreifen voraus. Bei einer Aufhebung der Benutzungspflicht für den folgenden Radweg »müsste jedoch eine gesicherte Überleitung des Radverkehrs von dem vorher markierten Radfahrstreifen auf die Fahrbahn erfolgen« (Beschlussvorlage).
Dafür reicht der Platz nicht, also muss nach dieser Logik die Benutzungspflicht für den Radweg bleiben.
Dass man auch den Radfahrstreifen aufheben könnte und müsste, weil die ebenfalls erforderliche Überleitung von der Fahrbahn auf den Radfahrstreifen am Anfang ebenfalls nicht vorhanden ist, lässt die Verwaltung lieber unerwähnt. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

22. August 2023: Der Unfall

»Bei einem Verkehrsunfall am gestrigen Montagmorgen, 22. August, in Bochum-Altenbochum kam es zu einer „Kettenreaktion“ mit mehreren Beteiligten. Ein Radfahrer (14) wurde dabei leicht verletzt.
Nach derzeitigem Stand war eine 34-jährige Autofahrerin aus Wetter gegen 7.20 Uhr auf der Wittener Straße in Richtung Bochum-Zentrum unterwegs. Zeitgleich befuhr ein 14-jähriger Junge aus Bochum den parallel zur Fahrbahn verlaufenden Radweg in gleicher Fahrtrichtung und kollidierte mit einer ihm entgegenkommenden Fußgängerin (13, aus Bochum), die nach Aussagen der Beteiligten plötzlich vom angrenzenden Gehweg auf den Radweg lief. Durch die Wucht des Aufpralls stürzte der junge Radfahrer auf die Fahrbahn der Wittener Straße. Die 34-jährige Autofahrerin vollzog eine Vollbremsung, um eine Kollision mit dem Jungen zu verhindern. Ein hinter ihr fahrender 23-jähriger Dortmunder konnte nicht mehr rechtzeitig bremsen und fuhr der Frau aus Wetter mit seinem Pkw auf.
Rettungssanitäter versorgten den leicht verletzten 14-Jährigen vor Ort.« (Pressemitteilung der Polizei Bochum [8])

Der Unfall ereignete sich aber nicht in Altenbochum, sondern genau vor dem Haus Wittener Straße Nummer 101, wie die Polizei auf Nachfrage mitteilte.
Dass die entgegenkommenden Fußgängerin (13 Jahre) »plötzlich vom angrenzenden Gehweg auf den Radweg lief« war dann zwangsläufig, weil an der Engstelle ja gar kein Gehweg existiert, wie die Stadt Bochum seit 2009 ganz genau weiß:
»In Höhe der Ampelanlage am Zugang zur U-Bahn-Haltestelle ergibt sich durch den vorhandenen Signalmast eine punktuelle Engstelle, an der auf wenigen Metern keine bauliche Unterscheidung zwischen Geh- und Radweg erfolgt.« (Beschlussvorlage 20220053 [14]).
Die Verwaltung sagt dazu: »Diese Situation, bei der unter Umständen der Eindruck entstehen könnte, es handele sich allein um einen Radweg, ist sicherlich nicht optimal.«
Unter Umständen könnte der Eindruck entstehen? Es ist eine simple Tatsache.
Und selbstverständlich sind die Opfer die Täter:

Sowohl für Fußgänger wie auch Radfahrer ist die Engstelle, an der sich beide Nutzergruppen die Verkehrsfläche teilen müssen, frühzeitig erkennbar, so dass sie sich durch eine angepasste und rücksichtsvolle Verhaltensweise darauf einstellen können.

Beschlussvorlage 20220053

Wer am Verkehr teilnimmt hat sich so zu verhalten, dass kein Anderer geschädigt, gefährdet oder mehr, als nach den Umständen unvermeidbar, behindert oder belästigt wird.

StVO § 1 Absatz 2

In der Stadt Bochum gilt das offensichtlich nur für Fußgänger und Radfahrer, für Autofahrer aber nicht. Bräuchte man sonst Radwege?

16.05.2023: Tag 1 des Verkehrsversuchs Wittener Straße 101

Auf den Unfall folgte nach neun Monaten Planung der Verkehrsversuch.
Die maximale Staulänge reichte am ersten Tag zurück fast bis zur Einmündung Glockengarten.
Die Kreuzung mit dem Freigrafendamm nebst Straßenbahnhaltestelle lag mitten im Stau.
Das heißt: Alle standen im Stau: Straßenbahn, MIV und Radfahrer.
Die Straßenbahn hat mehrere Minuten gebraucht, um von der Haltestelle Freigrafendamm bis zum Tunnel zu kommen.
Es gibt hier einen kurzen Abschnitt, wo die Straßenbahn den linken Fahrstreifen des MIV mit nutzt.
Diese Spitze trat aber nur kurzfristig auf. Um 7 Uhr war noch gar kein Stau zu sehen. Vor 8 Uhr und auch schon kurz nach 8 Uhr reichte der Stau nicht in den Kreuzungsbereich Freigrafendamm.

Das Nadelöhr

Mit dem Verkehrsversuch hatte die Stadt Bochum an der Wittener Straße ein neues Nadelöhr geschaffen.

Im Bereich der Einmündung Nordstraße (Bio-Markt) lag die Verengung auf einen Fahrstreifen VOR dem Beginn des Radwegs.
Die Radfahrer wurden hier also im Mischverkehr in das Nadelöhr und den Stau gezwungen.
Die Bedarfsampel an dieser Stelle und vor dem Haus Nr. 101 spielten für den Stau natürlich auch eine Rolle.
Die WAZ schrieb dazu:

Zum Start gab es Staus, die teilweise einige Hundert Meter bis zum Freigrafendamm zurückreichten.
Der neue Radweg ist bereits im vorigen November [!] vom Ausschuss für Mobilität und Infrastruktur beschlossen worden und erst jetzt, nach langer bürokratischer Vorbereitung, umgesetzt worden. Letzter Anlass war ein extrem gefährlicher Unfall vor der Hausnummer 101.

WAZ Bochum, 17.05.2023 [9]

27.05.2023: Die WAZ (plus) berichtet zum dritten Mal über den Pop-Up-Radweg an der Wittener Straße

Als Vorbericht zur Sitzung des Ausschusses für Mobilität und Infrastruktur (AMI) am Mittwoch (31.5.2024) listet die WAZ die politischen Positionen zum Verkehrsversuch auf. Besonders beeindruckend ist die Widersprüchlichkeit der Argumente. Die Gegner bringen Argumente vor, die man genauso gut als Begründung FÜR den Radweg lesen kann – sie begreifen es nur nicht.
Ich stelle das an ein paar Zitaten dar.

»Kritik am Pop-up-Radweg auf Wittener Straße wächst.«
»Der neue Pop-up-Radweg auf der Wittener Straße hat das Radfahren sicherer gemacht.«
Ein »Radfahrer kritisiert der Radweg wegen der Autostaus, die sich seit dem 15. Mai dort regelmäßig bilden.« Zu Recht, denn die Radfahrer stehen wegen des Nadelöhrs ja auch im Stau.
Die Ursache: »Auf der Wittener Straße in Altenbochum gibt es keinen Radweg.«
»Müssen erst Menschen sterben, bis die Bochumer Beamten diese Gefahr realisieren?«, fragte ein Fahrrad-Aktivist. Zu Recht.

Die FDP hatte unverzüglich beantragt, »den Verkehrsversuch auf der Wittener Straße sofort zu beenden und den eingerichteten Pop-Up-Radfahrstreifen zurückzubauen.« Sie übersieht, dass es keinen Weg zurück gibt: Die vorherige Situation an der Wittener Straße 101 ist rechtswidrig.
Die richtige und nicht gestellte Frage lautet: Was soll NACH dem Verkehrsversuch kommen?

Die Fraktion UWG/Freie Bürger sagt: »Man könne als Radfahrender auch „einfach mal absteigen und das Rad schieben“«. Das ist grundgesetzwidrig. Warum sagt die Fraktion nicht: Man könnte auch einfach mal das Auto stehen lassen?
Ulli Engelbrecht von der Wählergemeinschaft: »Ich bin der Meinung, dass man nicht an jeder Stelle und um jeden Preis und auf Kosten der Allgemeinheit einen ideologisch rundum gut gesicherten Radweg gebaut bekommt.«
Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen: Für ihn sind Fußgänger und Radfahrer nicht Teil der Allgemeinheit! Seine »Allgemeinheit« besteht anscheinend nur aus Autofahrern. Die sind ideologiefrei , nur die anderen sind Ideologen. Wie kann man einen Radweg »ideologisch rundum gut sichern«?

Die CDU: »Beim Verkehrsversuch auf der Wittener Straße zeigt sich wieder einmal, dass die rot-grüne Verkehrspolitik in Bochum zu viel Versuch ist – und zu wenig Verkehr ermöglicht.«
Da hat die CDU recht: Der Verkehrsversuch ist keine dauerhafte Lösung für mehr Radverkehr!

Die IHK: »Das Fahrrad ist Bestandteil unserer neuen Mobilität, aber auch kein Allheilmittel im Alleingang.«
Da hat sie recht: Das Auto ist – wie das Fahrrad – kein Allheilmittel im Alleingang. »Ein Zusammenspiel aller Verkehrsteilnehmer:innen muss im Fokus stehen.« Absolut richtig. Radfahrer sind als gleichberechtigte Verkehrsteilnehmer zu behandeln und dabei dem Auto ökologisch bei Weitem überlegen.

Das Fazit der IHK (und von Andor Balz?) könnte auch unseres sein:
»Eine gute Erreichbarkeit der Innenstadt mit allen [!] Verkehrsträgern ist eine zwingende Voraussetzung dafür, dass die ortsansässigen Unternehmen am Standort überleben können.«
Also fordert auch die IHK mehr Radwege auf der Wittener Straße und allen anderen Hauptverkehrsstraßen. Dann überleben auch die Radfahrer. [10]

Die – noch nicht fertig gestellten – neuen Regelwerke der FGSV schreiben die Bevorzugung (!) von Fußgängern und Radfahrern vor. Das haben CDU, FDP, Freie Bürger, UWG und IHK wohl noch nicht auf dem Schirm. SPD und Grüne dagegen schon? Angesichts der Beschlusslage kann man Zweifel haben.

Die Frage ist: Was kommt NACH dem Verkehrsversuch?

Ein 2,50 m breiter Radweg, beidseitig auf der ganzen Länge der Wittener Straße, wie es das Radverkehrskonzept der Stadt Bochum fordert und verspricht?

Eine Fahrspur wird grün, die Leute sehen rot (Spiegel+ 28.05.2023)

Ein Artikel über einen Radweg-Skandal in Leipzig, der zeigt, dass das Problem nicht nur in Bochum und Leipzig, sondern flächendeckend besteht:

»Eine Fahrspur wird grün, die Leute sehen rot. In immer mehr Städten gibt es Streit wegen neuer Radwege. Ein Fall aus Sachsen zeigt, dass es dabei ums Ganze geht: Ist nicht nur die Verkehrswende bedroht – sondern auch die Demokratie?«
Es geht tatsächlich ums Ganze: Es geht um Menschenrechte.
Ziel in Leipzig: »Der Anteil des motorisierten Individualverkehrs soll bis 2030 um ein Viertel schrumpfen, nachhaltige Mobilität dann 70 Prozent ausmachen.«

Jana Kühl, Deutschlands erste Professorin für Radverkehrsmanagement in Salzgitter, bezeichnet die Leipziger Radweg-Debatte als »idealtypisch im schlechtesten Sinne«.
Der Streit sei das Ergebnis einer Politik, die lange auf das Auto gesetzt habe.
»Daran haben sich sehr viele Menschen gewöhnt«, sagt Kühl, »sie halten die Abhängigkeit vom Auto für die alternativlose Normalität.« Der laute Protest aber verhindert demnach ernsthafte Debatten über Lösungen: »Wer CO2-neutral werden will, kann halt nicht alles beim Alten belassen.«

Fahrradforscherin Kühl diagnostiziert eine »Polarisierung«
Sie fordert eine forcierte Verkehrswende, »und zwar zulasten des Autoverkehrs«.
»Bis es so weit ist, wird die Polarisierung massiv fortschreiten«, sagt Kühl.

Oberbürgermeister Jung in Leipzig: Hundert Jahre der Autofokussierung hätten die Menschen »buchstäblich an den Rand gedrängt«, es gehe nun um die »Zukunftsfähigkeit der Stadt.« [11]

Wir brauchen mehr Freiheit vom Diktat des Autos.«.

Burkhard Jung, Oberbürgermeister in Leipzig

Man darf die Privilegien des MIV nicht gegen die Grundrechte der schwachen Verkehrsteilnehmer ausspielen. Also: Tempo 30 oder Radwege – wie die Radwende Bochum sagt.

15.6.2024: Der Verkehrsversuch wird nach einem Monat abgebrochen

Der Verkehrsversuch wurde am 15.6.2024 nach einem Monat abgebrochen. Durch den Konstruktionsfehler (das Nadelöhr im Bereich der Einmündung Nordstraße) wurden Rettungsfahrten der Feuerwehr behindert und mussten vor der Einfahrt des Straßenbahntunnels in den Gegenverkehr ausweichen.
»Dadurch, dass die Rückstaus regelmäßig über den Beginn des Pop-Up-Radweges hinausreichten, konnte auch dieser Weg nicht durch die Rettungskräfte genutzt werden.«
Der Verkehrsversuch mit dem Pop-Up-Radweg hätte schon an der Einmündung Freigrafendamm beginnen müssen. Dann wäre das Problem nicht aufgetreten.
Am 20.06.2023 war alles wieder abgebaut. Der vorherige Zustand aber nicht wiederhergestellt. Das inkriminierte Verkehrszeichen 237 (Radweg) war weiter abgedeckt und galt daher nicht. Erst im August 2024 wurde die Benutzungspflicht wieder hergestellt.
In der Mitteilung Nr. 20231680 vom 27.06.2023 hat die Verwaltung den Abbruch ausführlich begründet. [12]

August 2023: Der Widerspruch

Gegen die erneute Anordnung der rechtswidrigen Benutzungspflicht hat die Radwende Bochum bei der übergeordneten Straßenverkehrsbehörde in Arnsberg eine Beschwerde eingelegt.
In ihrer Stellungnahme dazu hat die Stadt Bochum die aus der Mitteilung Nr.: 20231680 bekannten Argumente wiederholt, aber – vorsätzlich? – verschwiegen, dass der 14-jährige Radfahrer durch die Wucht des Aufpralls auf die Fahrbahn stürzte und so durch das nachfolgende Auto unmittelbar in Lebensgefahr geriet. In der Stellungnahme ist ausschließlich von einer Fußgängerin die Rede, »die innerhalb einer kleinen Gruppe Richtung stadtauswärts ging, mit einem entgegenkommenden Radfahrer kollidierte und leicht verletzt wurde.« Von dem gänzlich fehlenden Gehweg ist auch keine Rede.

Zur Benutzungspflicht: »Bereits vor Einrichtung des Pop-up-Radweges, sowie auch aktuell noch einmal, wurde geprüft, ob eine Aufhebung der Benutzungspflicht oder sogar eine Aufhebung des Radweges für den Abschnitt möglich ist.
In beiden Fällen müsste jedoch eine gesicherte Ausleitung des Radverkehrs von dem vorher markierten Radfahrstreifen auf die Fahrbahn erfolgen. Dies ist aufgrund der beengten Verhältnisse in dem Abschnitt der Wittener Straße nicht ohne Weiteres möglich. Allein durch die Aufhebung der Benutzungspflicht würde die Situation an der Engstelle nicht behoben. Die vollständige Aufhebung des baulichen Radweges würde darüber hinaus einen Rückbau des rot gepflasterten Radweges erfordern.«
(Stadt Bochum, Tiefbauamt per E-Mail an die Bezirksregierung Arnsberg am 17.01.2024)

Die Argumente sind falsch. Der 60-Meter Radfahrstreifen und der folgende 100-Meter-Radweg können ohne Weiteres aufgehoben werden.
Es ist nicht nachvollziehbar, worin der Sicherheitsvorteil eines einzigen 60 Meter langen Radfahrstreifens auf einem vier Kilometer langen Straßenabschnitt ohne Radwege bestehen soll (Alte Wittener Straße Ost bis Lohring). Ein Rückbau des rot gepflasterten Radweges ist nicht erforderlich, das Zeichen 239, »Gehweg« reicht – wie an anderen Stellen – völlig aus.
Politik und Verwaltung wollen einfach nicht. Der Elefant steht im Raum.

Mai 2024: Die Klage

Auf Grund dieser im Grunde schon 2006 beginnenden langjährigen und komplizierten Vorgeschichte habe ich Mitte Mai 2024 beim Verwaltungsgericht Gelsenkirchen Klage eingereicht (Aktenzeichen: 14 K 2173/24). Der Streitwert beträgt 5.000 €. [13]

Wichtig für mich war, dass die Klage u.a. auch einen Bezug auf das Grundgesetz enthält:

Grundsätzlich gilt, Radfahrende in eine Verkehrssituation zu zwingen bei der sie aufgrund der baulichen Gegebenheiten, sich selbst und andere gefährden, ist sittenwidrig und ein Verstoß gegen Art 2 GG, insbesondere Absatz (2).

(Klageschrift [13])

[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Schienenfreie_Innenstadt
[2] https://www.waz.de/staedte/bochum/article236001613/Vor-25-Jahren-Stadt-Bochum-errichtet-U-Bahn-fuer-die-Zukunft.html
[3] https://www.baukunst-nrw.de/objekte/U-Bahn-Station-Lohring–300.htm
[4] https://www.bszonline.de/2012/11/07/opel-spange-spaltet-die-stadt/
[5] https://www.waz.de/staedte/bochum/article227228791/neue-bruecke-wittener-strasse-ist-jetzt-komplett-freigegeben.html
[6] https://www.waz.de/staedte/bochum/article227254479/neue-bruecke-wittener-strasse-wurde-ohne-radweg-gebaut.html
[7] https://www.waz.de/staedte/bochum/article227501531/neue-bruecke-ohne-radweg-buendnis-spricht-von-posse.html
[8] https://www.presseportal.de/blaulicht/pm/11530/5303438
[9] https://www.waz.de/staedte/bochum/bochum-neuer-radweg-auf-der-wittener-strasse-sorgt-fuer-stau-id238416845.html
[10] https://www.waz.de/staedte/bochum/bochum-kritik-am-pop-up-radweg-auf-wittener-strasse-waechst-id238508695.html
[11] https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/verkehrswende-in-leipzig-warum-viele-wegen-radwegen-auf-die-barrikaden-gehen-a-849053d1-d35c-4214-baa5-336c0386ab69?context=issue
[12] https://bochum.ratsinfomanagement.net/sdnetrim/UGhVM0hpd2NXNFdFcExjZac4VekWQy-JJpuu_EDEVHzM7iZ18i-NYw-cTQ4ZjlUu/Mitteilung_der_Verwaltung_20231680.pdf#search=Mitteilung%2020231680%20Nr.
[13] Klageschrift Verwaltungsgericht Gelsenkirchen
[14] https://bochum.ratsinfomanagement.net/sdnetrim/UGhVM0hpd2NXNFdFcExjZYiZ0nXreGPwCgeeEld7VXh0NPhPqlrpYgYz-m0HJFrG/Beschlussvorlage_der_Verwaltung_20220053.pdf#search=20220053

Ein Kommentar bei „Wittener Straße 101 – Eine unendliche Geschichte?“

  1. Hallo Herr Kuliga,
    Ich bin da vielleicht etwas naiv, wie lange so ein Gerichtsverfahren dauert, aber hat sich aus ihrer Klage schon irgendetwas ergeben?

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