Die Polizei Bochum sowie die Verkehrsüberwachung und das Tiefbauamt der Stadt Bochum haben am Dienstag, 13. August 2024 in der Innenstadt die Aktion »Geisterradler« veranstaltet.
Angeblich sind »Geisterradler« die zweithäufigste Unfallursache bei Fahrrad-Verkehrsunfällen in Bochum.
Aber die Polizei kennt keine Unfallursache »Falsche, fehlerhafte, ungenügende oder fehlende Radverkehrsinfrastruktur«. Sonst wäre das mit Sicherheit und großem Abstand die häufigste Unfallursache in Zusammenhang mit Fahrrädern. Und die Unfallstatistik der Polizei kennt nur die Spitze des Eisbergs: Die polizeilich erfassten Unfälle – alle anderen sind unsichtbar. Oft wird zudem die Unfallursache falsch oder unvollständig erfasst. Allgegenwärtige Sprachliche Stolperfallen vernebeln die eigentliche Unfallursache.
Mit dieser Kampagne erklärt Bochum die Opfer der eigenen Verkehrspolitik zu Tätern.
Herr, die Not ist groß! Die ich rief, die Geister, werd’ ich nun nicht los.
…
Denn als Geister ruft euch nur zu seinem Zwecke erst hervor der alte Meister.
(Goethe, Zauberlehrling, 1797)
Bestes Beispiel dafür ist die Königsallee / Viktoriastraße, wo die Stadt Bochum gleich zwei der »Geisterradler«-Schilder aufgestellt und die Polizei zusätzliche Sprühmarkierungen aufgebracht hat.
Jeder kann sehen, dass zwischen Schauspielhaus und Südring auf beiden Seiten der Straße viele Radfahrer in der falschen Richtung bzw. auf der falschen Seite unterwegs sind. Manchmal gibt es dort einen Radweg, manchmal nur einen Gehweg und manchmal gilt auf dem Gehweg »Radfahrer frei«.
Was es dort sehr häufig gibt, sind Radwege, die so schlecht sind, dass man sie nicht benutzen sollte und Zusatzschilder, die besagen: »Radfahrende dürfen auch die Fahrbahn nutzen«.
Die Viktoriastraße gilt seit dem »Pilotprojekt Radwege- und Beschilderungsplan Bochum« von 1988 als Paradebeispiel dafür, dass schlechte Radwege schlechter sind, als gar keine. Bochum hat es in sechsunddreißig Jahren nicht fertiggebracht, die Königsallee / Viktoriastraße so zu gestalten, dass dort Radfahren einfach und sicher möglich ist. Das gilt unverändert auch nach den letzten »Verbesserungen«. Nicht einmal der Radfahrstreifen vor dem Musikzentrum ist regelkonform angelegt.
Wer also zwischen Schauspielhaus und Rathaus mit dem Rad fahren will, steht vor dem ungelösten Problem »Wie soll das nur gehen?« Die Antwort ist Geisterradeln, weil es kein zumutbares Angebot für Radfahrer gibt.
Beispiele:
- Wie kommt man vom Schauspielhaus aus mit dem Fahrrad legal zum Lidl an der Viktoriastraße?
- Wie biegt man vom Schauspielhaus aus mit dem Fahrrad nach links in die Clemensstraße ab?
- Oder in die Alte Hattinger Straße, die Humboldtstraße, den Marienplatz?
- Wie kommt man von der Alten Hattinger Straße zum Lidl?
- Wie kommt man von der Brüderstraße oder Kortumstraße aus zum Schauspielhaus?
- Wie biegt man von der Kerkwege aus nach links ab?
Bochum hat die Radfahrer an der Königsallee ungebrochen bis heute dazu erzogen, auf der linken Seite zu fahren – lange Zeit war das sogar vorgeschrieben. Die Folge war ein Unfallhäufungspunkt an der Einmündung Farnstraße, der 2009 Gegenstand langer Erörterungen der Fachleute vor Ort war.
Solange die Radwege an der Königsallee benutzungspflichtig waren, mussten (!) Radfahrer Richtung Innenstadt an der Arnikastraße auf die linke Seite wechseln und bis zum Schauspielhaus auf der falschen Seite fahren. An der Hattinger Straße gab es dann plötzlich keinen Radweg mehr und man musste sehen, wo man bleibt. Viele sind geradeaus weitergefahren – dann als Geisterradler.
Bis heute ist der mangelhafte bis ungenügende – aber nicht mehr benutzungspflichtige – Radweg dort ausdrücklich zum Radfahren in Gegenrichtung freigegeben, sogar auch dort, wo es gar keinen Radweg gibt: Vor der Melanchthonkirche.
Wenn die Stadt Bochum diese Probleme angehen wollte, müsste sie zuallererst den flächigen Missbrauch der Beschilderung »Radfahrer frei« an Gehwegen beseitigen.
Bochum ist jetzt (Stichtag 25. August) seit acht Jahren in der AGFS. Der erste Auftrag der AGFS an Bochum vor der Aufnahme war: Beendigung des Missbrauchs der Beschilderung »Radfahrer frei«.
Für die Königsallee / Viktoriastraße zwischen Schauspielhaus und Rathaus gibt es eine Lösung, die sogar auch schon in Bochum vor Jahrzehntem umgesetzt wurde und aktuell noch einmal: »Complete Streets« (englischer Artikel) – wie »Protected Bike Lanes« ein Konzept aus den USA und dort teils schon seit Jahrzehnten das Paradigma für sichere Straßen für alle.
„Complete Streets“ stellt eine transformative Strategie dar, bei der das Verkehrsnetz so geplant, gestaltet, gebaut, betrieben und instandgehalten wird, dass eine sichere Mobilität für ausnahmslos alle Verkehrsteilnehmenden sichergestellt ist. Mit neuen Entwicklungsprozessen für die Gestaltung von „Complete Streets“ wurde der Sicherheit aller Personen im Verkehr Vorrang eingeräumt. Mit dieser Umstellung soll das Ziel „Vision Zero“ unterstützt und ein gesünderes, grüneres und gerechteres Straßensystem geschaffen werden.
(FGSV)
Sehen kann man das Prinzip an der Herner Straße zwischen Brückstraße und A40, der Oskar-Hoffmann-Straße zwischen Königsallee und Universitätsstraße und neu an der Hauptstraße / Provinzialstraße in Langendreer.
»Complete Streets« sind fußgänger- und fahrradfreundlich. Sie bieten eine hohe Aufenthaltsqualität und sind für Fußgänger und Radfahrer barrierefrei. Sie bieten gute Geh- und Radwege und lassen sich einfach und sicher queren. Typischerweise haben sie je einen Fahrstreifen pro Richtung und in der Mitte eine Mehrzweckzone mit Abbiege- und Querungshilfen.
Universitätsstraße: Nicht einmal »Radfahrer frei«.
Andersherum geht es auch: »Geisterradler« auf einem Gehweg, der nicht freigegeben ist, das aber unbedingt sein müsste.
Die Universitätsstraße wurde Anfang der 1960er Jahre gebaut, als Bochum die entschiedene Wende zur »Autostadt« vollzog. Für RUB und Opelwerke wurden autobahnähnliche Straßen mitten durch Bochum gebaut: Außenring und eben Universitätsstraße. Die Ausblendung des Fußgänger- und Radverkehrs rächt sich bis heute. Die Universitätsstraße ist das Gegenteil einer »Complete Street«.
Vor der noch ziemlich neuen Polizeiwache Südost (Baujahr 2008) gibt es keine Möglichkeit, die Straße zu queren, auch nicht in Richtung RUB. Wie soll man also mit dem Rad von hier aus Richtung Innenstadt fahren? Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Falsch herum auf dem Radfahrstreifen oder falsch herum auf dem Gehweg bis zur Wasserstraße. Selbst Polizisten, die dort arbeiten, machen das so.
Hier wäre »Radfahrer frei« ausnahmsweise einmal sinnvoll. Warum steht an diesem Gehweg trotzdem nicht »Radfahrer frei«? Weil der Gehweg zu schmal ist. Fahrradfreundlich setzt fußgängerfreundlich voraus. Die Universitätsstraße hat ungenügende Gehwege und bis heute keine durchgehenden Radwege – nicht einmal bis zur Abfahrt Uni-West.
Parallel zur A448 hat Bochum einen neuen Geh- und Radweg gebaut. Aber an der Universitätsstraße kann man mit dem Fahrrad weder nach rechts noch nach links abbiegen: Man hat die Wahl: Umkehren oder »Geisterradler«?
Wer ist hier Opfer und wer ist Täter?
Bochum müsste dafür sorgen, dass Radfahrer vierstreifige Straßen überall da, wo es einen Bedarf gibt, problemlos queren können. Eine Mammutaufgabe.
Und bei Tempo 50 muss es sowieso Radwege geben, zuallererst an vierstreifigen Straßen wie eben Königsallee und Viktoriastraße.
Es hilft nicht, die Opfer zu stigmatisieren, nachdem man das Problem selbst verursacht hat.
Ähnliche Aktionen mit den gleichen Schildern gab es übrigens schon seit 2016 in vielen Städten, z.B. Köln, Münster, Lippe, Steinfurt, Minden-Lübbeke, Lüneburg, Leer, Bremerhaven Hamburg, Dülmen, Bamberg usw.