Ein Test auf Nahmobilität in Bochum
(Bild: Clemensstraße. Geradeaus fahren in beiden Richtungen verboten. Höchstwahrscheinlich wird die Clemensstraße Teil des RS1 in Bochum.)
»Nahmobilität« ist der Leitbegriff der AGFS NRW. Die Grundidee stammt von 2002. Nahmobilität umfasst alle Mobilitätsformen ohne den motorisierten Individualverkehr (MIV) und ohne den ÖPNV. Kern der Nahmobilität sind Rad- und Fußgängerverkehr und zwar für alle Altersgruppen. Der »Umweltverbund« schließt dagegen den ÖPNV mit ein. Nahmobilität mit dem Fahrrad umfasst einen Aktionsradius von etwa 5-7 km Entfernung, mit dem Pedelec auch mehr. In der Schweiz heißt das »Langsamverkehr«.
Nahmobilität bezeichnet die individuelle Mobilität, vorzugsweise zu Fuß und mit dem Fahrrad, aber auch mit anderen nicht motorisierten Verkehrs- bzw. Fortbewegungsmitteln (Inliner, Skater etc.).
https://www.agfs-nrw.de/fachthemen/nahmobilitaet/aktionsplan-nahmobilitaet (2012)
In Augenschein genommen wird aber auch der immer größer werdende Anteil der Bevölkerung, der in seiner Mobilität eingeschränkt und z.B. auf Rollatoren oder Rollstühle angewiesen ist.
Erklärtes Ziel von Nahmobilität 2.0 ist: unsere Städte und Gemeinden zu hochwertigen Lebens- und Bewegungsräumen zu machen, die ein Optimum an Bewegungsmöglichkeiten für alle Verkehrsteilnehmer/-innen bieten.
https://www.agfs-nrw.de/fachthemen/nahmobilitaet/nahmobilitaet-20
Eine wesentliche Grundbedingung für Nahmobilität ist die Durchlässigkeit des Straßenverkehrssystems. Fußgänger und Radfahrer sind besonders umwegempfindlich. Das Straßensystem ist aber auf die Leistungsfähigkeit für den MIV optimiert. Es wimmelt nur so von Abbiegeverboten, Einbahnstraßen und anderen Verkehrslenkungsmaßnahmen. Radfahrer brauchen keine Einbahnstraßen und keine vorgeschriebenen Fahrtrichtungen. Für die Nahmobilität ist wichtig, dass man alle Straßen und Wegebeziehungen frei nutzen kann.
Bochum hat seit 2016 einen »Nahmobilitätsbeauftragten«, mittlerweile sogar zwei. Die Aufgabe der Nahmobilitätsbeauftragten ist »Öffentlichkeitsarbeit pro Radfahren und Laufen«. Mehr nicht.
Umso wichtiger ist es, einmal zu testen, wie es um die Nahmobilität in Bochum tatsächlich bestellt ist. Und da offenbaren sich gewaltige Defizite.
12 Aufgaben für den Oberbürgermeister
Radtouren mit Prominenten sind oft Zuckerwatte-Veranstaltungen. Die Gefahrenstellen, mit denen Radfahrende täglich überall zu tun haben, verschwinden bei einer Besichtigung in der Gruppe: Im Rudel ist man geschützt und muss sich nicht an die Regeln halten.
Deshalb schlage ich dem Oberbürgermeister hier Aufgaben vor, die er – unter Beachtung der StVO – allein und ohne Anleitung lösen soll – so wie jeder andere Radfahrende im Alltag auch.
Zur Vereinfachung befinden sich alle zwölf Aufgaben in der Nähe der Innenstadt.
Wenn der OB alle Aufgaben lösen kann, nenne ich Bochum fahrradfreundlich.
Die zwölf Aufgaben (auch zum selbst ausprobieren geeignet):
Fahren Sie vom Rathaus zum Startpunkt Kerkwege (Grabenstraße, Harmoniestraße, Dr.-Ruer-Platz, Luisenstraße, Brüderstraße)
- Fahren Sie von der Kerkwege nach links in die Viktoriastraße / Königsallee.
- Fahren Sie auf der Königsallee stadtauswärts zur Oskar-Hoffmann-Straße und biegen Sie dort nach links ab.
- Fahren Sie auf der Universitätsstraße stadteinwärts zum Südring, biegen Sie dort links ab.
- Fahren Sie auf dem Südring Richtung Viktoriastraße und biegen Sie dort links ab.
- Fahren Sie auf der Hattinger Straße stadteinwärts zur Königsallee und biegen Sie nach links ab.
- Fahren Sie auf der Königsallee stadteinwärts zur Humboldtstraße und biegen Sie nach links ab.
- Fahren Sie vom Schauspielhaus stadteinwärts und biegen Sie am Südring nach links in die Rottstraße ab.
- Fahren Sie vom Schauspielhaus stadteinwärts und biegen Sie nach links ab in die Clemensstraße
- Fahren Sie von der Clemenstraße quer über die Königsallee zur Clemensstraße
- Fahren Sie auf der Königsallee stadteinwärts zur Hattinger Straße und biegen Sie nach links ab.
- Fahren Sie auf der Universitätsstraße stadteinwärts zum Südring, biegen Sie dort rechts ab und anschließend nach links in den Boulevard.
- Fahren Sie auf der Wittener Straße zum Südring und biegen Sie nach links ab.
Die zwölf Aufgaben sind fast alle Aufgaben zum Linksabbiegen. An Kreuzungen kann man in der Regel geradeaus, rechts oder links fahren. Schon einfach geradeaus fahren kann im Autoverkehrssystem für Radfahrer eine schwierige Aufgabe sein. Linksabbiegen ist immer schwierig und teils sogar unmöglich – für funktionierende Nahmobilität aber essentiell.
Beispiel Königsallee / Viktoriastraße zwischen Schauspielhaus und Südring:
Es gibt auf der linken Seite fünf Nebenstraßen. Keine davon ist für Radfahrer leicht und sicher erreichbar.
In der umgekehrten Richtung gibt es drei Nebenstraßen und auch davon ist keine für Radfahrer leicht und sicher erreichbar. Nicht einmal die einfache Querung der Königsallee / Viktoriastraße ist möglich (Clemensstraße, Alte Hattinger Straße / Kronenstraße). Genauso wenig das Linksabbiegen aus einer Nebenstraße in die Königsallee / Viktoriastraße.
Siehe: Viktoriastraße – einfach nur geradeaus fahren …
Es ist häufig die Summe der Widerstände und Konflikte, die den Geh- und Fahrspaß erheblich mindert und letztlich auch Konflikte zwischen den unterschiedlichen Verkehrsträgern produziert. Und genau diese Einschränkungen limitieren auf Dauer die verstärkte Nutzung der Nahmobilität.
Nahmobilität 2.0, Seite 10
Nahmobilität ist in Bochum kaum möglich.
Eine unmögliche Radtour
Diese Radtour verknüpft die meisten der 12 Aufgaben für den OB zu einer durchgehenden Strecke.
Man muss 33 mal nach links und 18 mal nach rechts abbiegen. »Unmöglich« ist diese Radtour, weil man an zahlreichen Stellen nicht wie gewünscht fahren darf oder fahren kann. Erfahre es selbst.
Startpunkt: Rathaus
GPX-Track der Radtour (ungefährer Verlauf) zum Download: 12_Aufgaben_Nahmobil.gpx
- links Boulevard
- 2. rechts Grabenstraße
- 1. rechts Harmoniestraße
- 1. links Dr.-Ruer-Platz
- – Luisenstraße
- – Brüderstraße
- 1. rechts Kerkwege
- 1. links Viktoriastraße / Königsallee
- 3. links Oskar-Hoffmann-Straße
- 3. links Universitätsstraße
- 2. links Südring
- 3. links Viktoriastraße / Königsallee
- 7. rechts Wilhelm-Stumpf-Straße
- 2. rechts Yorckstraße
- 1. rechts Hattinger Straße
- 2. links Königsallee
- 4. links Humboldtstraße
- 1. rechts Marienplatz
- 1. links Viktoriastraße
- 1. links Südring
- 1. links Rottstraße
- 1. links Schmidtstraße
- 5. rechts Ursulastraße
- 1. links Bessemerstraße
- 2. links Hattinger Straße
- 2. links Königsallee
- 1. links Clemensstraße
- 1. links Alte Hattinger Straße
- 1. rechts Dibergstraße
- 1. links Bessemerstraße
- geradeaus Yorckstraße
- 1. links Wilhelm-Stumpf-Straße
- 2. links Pieperstraße
- 1. rechts Hubertusstraße
- 1. links Königsallee
- 1. links Hattinger Straße
- 1. rechts Oskar-Hoffmann-Straße
- 1. rechts Alte Hattinger Straße
- 1. rechts Clemensstraße
- 2. links Herrmannshöhe
- 2. links Universitätsstraße
- 1. rechts Südring
- 1. links Boulevard
- 2. links Hellweg
- 1. rechts Huestraße
- 1. links Luisenstraße
- geradeaus Brüderstraße
- 2. links Kreuzstraße
- 1. links Neustraße
- 1. rechts Südring
- 2. rechts Universitätsstraße
- 1. links Ferdinandstraße
- 1. links Wittener Straße
- 1. links Südring
- 3. rechts Viktoriastraße
- Rathaus
AGFS NRW Broschüre zum Konzept Nahmobilität (1. Auflage, 2007):
https://www.agfs-nrw.de/fachthemen/nahmobilitaet/nahmobilitaet-im-lebensraum-stadt
AGFS NRW Broschüre Nahmobilität 2.0 (1. Auflage 2012):
https://campus.agfs.nrw/ilias.php?baseClass=ilrepositorygui&cmd=sendfile&ref_id=196
Die Richtlinien für die Anlage von Stadtstraßen (RASt) der FGSV sagen deshalb seit knapp 20 Jahren:
»Unverzichtbar ist … während der Entwurfsphase die direkte Auseinandersetzung mit der Örtlichkeit und dem Gesamtraum, die in der Regel nicht allein über die in der Zustandserfassung verwendeten Dokumentationsmedien erfolgen kann.«
RASt 06, S. 22
Ich kann mir nicht vorstellen, daß der OB der Aufforderung zur Radtour (wegen der damit einhergehenden noch einmal gesteigerten Herausforderungen am besten zu Zeiten des „Berufsverkehrs“) nachkommen wird.
Denn zum einen bringt er sicherlich einen starken Überlebenswillen mit, der ihn daran hindern wird und zum anderen müßte ihm die Tour meines Erachtens vor Augen führen, daß es im Planungsstab der Stadt für Fahrradinfrastruktur anscheinend erheblichen Optimierungsbedarf gibt. Bisher habe ich den Eindruck, daß das gerne ausgeblendet wird.
Meines Erachtens muß Teil der Aufgaben von Planern sein, angedachte Lösungen vorbereitend aus Sicht der Zweiradnutzer zu „erfahren“ sowie die Qualität der Umsetzung im Nachgang aus derselben Perspektive zu überprüfen.
Ich bezweifle, daß so vorgegangen wird. Denn würde es geschehen, würden die Widrigkeiten für Radfahrende in Bochum den Verantwortlichen deutlich machen, daß sie sehr häufig alles andere als gute Arbeit geleistet haben. Das wiederum müßte nach meiner Auffassung zu Nachbesserungen und spätestens für das nächste Projekt von vorn herein zu einer besseren Planung/Umsetzung führen.
Schaue ich mir die Resultate vieler Bochumer Aktivitäten der letzten Jahre für den Fahrradverkehr an, die hier im Blog auch immer wieder thematisiert werden, kann ich eigentlich nur schlußfolgern, daß guter und vor allem sicherer Fahrradverkehr seitens der Stadt Bochum oft gar nicht vorgesehen ist. Damit erübrigt sich dann natürlich auch die Qualitätskontrolle aus der Radfahrerperspektive.