NIMBY – Streit unter Nachbarn

Kinetische Energie von Fußgängern, Radfahrern und Autofahrern im Vergleich.

Bild: Kinetische Energie von Fußgängern, Radfahrern und Autofahrern im Vergleich: Ein Pkw hat die Bewegungsenergie von 2.000 Fußgängern. Wer ist die Gefahr?

Bahntrasse nur für Fußgänger?

Der Fahrradverkehr wird von zwei Seiten in die Zange genommen: Vom motorisierten Verkehr (die Autofahrer) und vom Fußverkehr (die Fußgänger).
Radfahren ist Fahrzeugverkehr wie der Autoverkehr, aber biogen – mit Muskelkraft – wie der Fußverkehr.
Vom Auto aus gesehen werden Fußgänger und Radfahrer gleichermaßen als Störfaktoren wahrgenommen und zusammen als Langsamverkehr bezeichnet.

Es ist eine Frage der Geschwindigkeit

Aus Fußgängersicht sind Radfahrer die nächsten Feinde. Der Autoverkehr wird als übermächtig und nicht beeinflussbar hingenommen. Aber die Radfahrer machen aus dieser Sicht den Fußgängern den Platz streitig – weil die Radfahrer durch direkten oder indirekten Zwang seitens des Autoverkehrs auf die Fußgängerbereiche abgedrängt werden. Wo sie nicht willkommen sind. Gehwege sind nur für Fußgänger. Allerdings sind Radfahrer auf der Fahrbahn genauso wenig erwünscht. Der übermächtige Autoverkehr verdrängt die Radfahrer auf die Gehwege. Oft ist das sogar amtlich erwünscht: „Radfahrer frei“. Die Autofahrer betrachten die Fahrbahn als ihren Besitz, die Fußgänger den Seitenraum. Für die Autofahrer sind die Radfahrer zu langsam, für die Fußgänger zu schnell.

Historisch gesehen war die Straße eine gemeinsame Verkehrsfläche aller Verkehrsteilnehmer. Eine Trennung fand erst statt, als der zunehmende Autoverkehr die Fahrbahn mit Gewalt für sich beanspruchte. Dabei kam der Autoverkehr als letzter dazu: alle anderen waren schon vorher da. Fahrbahnen und Gehwege wurden vom Staat gebaut. Die ersten Radwege mussten die Radfahrer selber bauen.
Bis heute ist der Radsport (Profis, Amateure, Freizeitsportler, Training und Rennen) der einzige Sport, der fast vollständig auf der Straße stattfindet. Tödliche Unfälle von Radsportlern im Training sind an der Tagesordnung. Kein Autofahrer wird von Radfahrern totgefahren, der umgekehrte Fall ist häufig.

Zechenbahnen waren Industriebahnen

Bahntrassen wie die Julius-Philipp-Zechenbahn und die anderen Bahntrassen in Bochum sind nie Orte fürs gemütliche Spazierengehen gewesen. Zechenbahnen waren Industriebahnen: laut und dreckig. Da wurde Kohle auf einer schmalen eingleisigen Strecken transportiert.
Um aus der Julius-Philipp-Zechenbahn einen Ort für das »gemütliche Spazierengehen« zu machen, müsste man den Bahndamm entfernen und das Tal renaturieren. Dann wäre es eine Grünfläche.

Nicht vor meiner Haustür – das »fahrradfreundliche« Steinkuhl

Die »Bürgerinformation« zur Julius-Philipp-Zechenbahn am 20.01.2025 war eine demonstrative Bürgerwehr-Versammlung. Ständig war von den Wutbürgern die Floskel »Ich bin auch Radfahrer« zu hören, als Einleitung des großen fahrradfeindlichen „ABER“: Nicht hier.

Dabei hat die SPD Steinkuhl mitgeteilt dass die Julius-Philipp-Zechenbahn überhaupt erst seit 2023 als Gehweg beschildert ist …

Die WAZ berichtete unter der Überschrift »„Werden platt gefahren“: Bochumer schimpfen über Radweg-Plan.« Eine Teilnehmerin über den Springorum Radweg: »Da rasen die wie die Bekloppten und drängen die Fußgänger an den Rand. Da geht man zur Seite oder wird platt gefahren.« Unfälle gibt es aber nicht. »Platt gefahren« werden Fußgänger auf den Straßen – von Autofahrern.

Der Springorum-Radweg

Der RVR spricht offiziell vom »Springorum Radweg«. Aber alle Bahntrassen-Wege sind gemeinsame Fuß- und Radwege – sogar dann, wenn sie offiziell als Radwege bezeichnet werden. Nicht vergessen sollte man, dass z.B. die Springorum-Trasse als Rad-Schulweg ausgebaut wurde, also für den Alltagsverkehr. Auch die im Bau befindliche Opel-Bahn wird ein gemeinsamer Geh- und Radweg.

Bahntrassen sind nun mal keine Gehwege. Aber auf der Bahntrasse in Steinkuhl soll Radfahren verboten sein – als wären Bahntrassen Privateigentum der umliegenden Anwohner.
Nicht einmal die Idee, die parallel verlaufende Straße »Am Knüpp« in eine Fahrradstraße umzuwandeln, wurde auch nur ansatzweise akzeptiert: wegen der Kinder. In einer Tempo-30-Zone sind Kinder trotz Autoverkehr sicher, auf einer Fahrradstraße aber nicht? Weil Radfahrer ja Raser sind, ganz im Gegensatz zu den Autofahrern, die anscheinend ja in aller Regel viel langsamer unterwegs sind als Radfahrer?

Hauptroute im Radverkehrskonzept

Die Julius-Philipp-Zechenbahn ist im – natürlich mit allen Bezirken abgestimmten – Radverkehrskonzept als Hauptstrecke des Radverkehrsnetzes eingezeichnet. Das ist kein Zufall: Die Zechenbahn ist die einzige direkte Verbindung zwischen Mark 51°7 und der RUB.

Auf der Bürgerinformation durfte das keine Rolle spielen.

Ein Bürger verstieg sich zu der Behauptung, hier solle wider einmal »dem Fahrradfahrer alles untergeordnet werden«. Ich würde gerne mal erleben, dass auch nur einmal in Bochum dem Radverkehr alles untergeordnet wird: Eine Bahntrasse, auf der Fußgänger nicht zugelassen sind? Eine Fahrradstraße ohne Autoverkehr? Ein Radkreuz ohne Fußgängerzonen? Radschnellwege kreuz und quer durch Bochum? Autofreie Velorouten – getrennt vom Fußgängerverkehr? Ich kenne kein einziges Beispiel.

Die Trennung von Fuß- und Radverkehr gibt es am ganzen Ruhrtal-Radweg nicht, von wenigen Ausnahmen abgesehen. Die Trennung würde ja auch immer zuerst die Trennung vom Autoverkehr bedeuten, sowohl für Fußgänger als auch für Radfahrer.
Beide wollen ihre Ruhe haben, den Lärm machen die anderen. Die geforderte Trennung müsste also immer eine doppelte sein. Aber in Bochum gibt es Hauptverkehrsstraßen, die nicht einmal einen Gehweg haben.

Nimby – Not In My Back Yard

Nimby wird – meist in abwertender Weise – für Situationen oder Prinzipien verwendet, bei denen Teile der Bevölkerung bestimmte überregional bedeutsame Infrastruktur zwar grundsätzlich befürworten und oft auch selbst nutzen wollen, aber deren Errichtung in der Nähe des eigenen Wohnorts abgelehnt wird, weil die Personen selbst lokal Nachteile empfinden. Dabei wird nicht nach einer für die Bevölkerungsgesamtheit optimalen Lösung gestrebt, sondern lediglich einseitig versucht, die Nachteile für sich selbst zu verhindern und auf andere Bevölkerungsgruppen abzuwälzen, was Verwendern des Begriffs unredlich erscheint.

(DE.Wikipedia)

Besser könnte man die Stimmung und die Redebeiträge auf der Versammlung nicht beschreiben.

Beispiele für Projekte, die auf Widerstand der Nimby-Bewegung gestoßen sind, sind der Wohnungsbau (insbesondere sozialer Wohnungsbau), Hochgeschwindigkeits-Bahnstrecken, Obdachlosenunterkünfte, Kindertagesstätten, Schulen , Universitäten und Hochschulen, Fahrradwege und eine Verkehrsplanung , die die Fußgängersicherheitsinfrastruktur fördert, Solarparks, Windräder, Müllverbrennungs-Anlagen, Kläranlagen, Fracking und Endlager für Atommüll.

Preisfrage: Wie viele selbständig geführte reine Radwege gibt es in Bochum?

Ich tippe auf einen: die Anfänge des RS1. Und der hat zwingend einen parallelen Gehweg.
Reine Gehwege dagegen gibt es sehr, sehr viele: Das Grünflächenamt hat allein etwa 64 Kandidaten herausgefiltert, die auch für Radfahrer freigegeben werden könnten. Die Bezirke haben bisher die meisten Vorschläge abgelehnt. Rad fahren im Wald ist dagegen in Nordrhein-Westfalen auf »festen Wegen« überall erlaubt und Schrittgeschwindigkeit nicht vorgeschrieben.

Die sicherlich wünschenswerte Trennung von motorisiertem Verkehr, Radverkehr und Fußverkehr funktioniert allenfalls bei angebauten Straßen innerhalb geschlossener Ortschaften.
Auch die ERA lehnen gemeinsame Geh- und Radwege nur da ab. An Landstraßen sind gemeinsame Geh- und Radwege die Standardlösung. Nur Radschnellwege gehen darüber hinaus.
Radfahrstreifen sind prinzipiell vom Fußgängerverkehr getrennt – und bauliche Radwege werden in Städten kaum noch gebaut.

Königsallee mit getrenntem Rad- und Gehweg (ca. 1990). Heute gibt es den Gehweg nicht mehr.
P.S.: Warum hatte der Radweg hier keine Vorfahrt?

In Bochum wäre die Königsallee ein Musterkandidat für getrennte Wege für Fuß- und Radverkehr: Die gab es dort früher, jetzt aber nicht mehr. Die Königsallee wurde geplant und gebaut als Prachtboulevard, primär für Fußgänger. Und der anliegende Rechner Park war der angesagte Treffpunkt für den freien Sonntag, das Bermudadreieck am Anfang des 20. Jahrhunderts.
Eindrückliche Bilder davon gibt es hier:
https://www.historisches-ehrenfeld.de/bildergalerie-koenigsallee.htm
Was ist davon übrig geblieben?
Selbst am Kemnader See gibt es keine konsequente Trennung – insbesondere nicht auf den Brücken.

Kemnader See (ca. 1990) »Radfahrer bitte absteigen« – auf dem Radweg.
Viktoriastraße am Südring: Seit 50 Jahren werden Radfahrer auf den Gehweg gezwungen. Der Radweg ist nicht befahrbar.

Bis jetzt gibt es nur eine wissenschaftliche Untersuchung zu Fuß- und Radverkehr auf selbständig geführten gemeinsamen Geh- und Radwegen. Im Nationalen Radverkehrsplan (NRVP) wurde daraus der Leitfaden »Radfahrende und zu Fuß Gehende auf gemeinsamen und getrennten selbstständigen Wegen« entwickelt:

Selbstständige Geh- und Radwege tragen wesentlich zur Attraktivität des Radverkehrs bei.
Darüber hinaus stellen diese Wege aber auch für zu Fuß Gehende attraktive Flächen für den Aufenthalt und zur Fortbewegung dar. Auf selbstständigen Geh- und Radwegen überlagern sich folglich die Ansprüche unterschiedlicher Nutzungsgruppen.
Im nationalen Raum liegen keine Erkenntnisse zur Führung des Fuß- und Radverkehrs auf selbstständigen gemeinsamen und getrennten Wegen vor. Innerhalb des Nationalen Radverkehrsplanes wurde daher das Forschungsprojekt „NRVP 2020 – Fuß- und Radverkehr auf gemeinsamen und getrennten selbstständigen Wegen“ initiiert um die bestehenden Wissenslücken zu schließen. Die im vorliegenden Leitfaden formulierten Empfehlungen basieren auf den Erkenntnissen dieses Forschungsprojektes.“

https://www.mobilitaetsforum.bund.de/DE/Themen/Wissenspool/Berichte/LISt_Radfahrende-und-zu-Fuss-Gehende_2020.pdf?__blob=publicationFile&v=2 (28 Seiten)

Wie verhalten sich Fußgänger?

Für zu Fuß Gehende ist im Allgemeinen und insbesondere auf selbstständigen Wegen abseits des Straßenverkehrs nicht allein die Fortbewegung relevant. Vielmehr spielen das ungestörte Gehen oder gar das Flanieren eine große Rolle. Zu Fuß Gehende sind öfter durch Gespräche, Konsum von Medien oder Dinge in der Umgebung abgelenkt. Auf den (vermeintlich) [!] eigenen Flächen – sowohl straßenbegleitend, als auch selbstständig – tritt das Bewusstsein für Verkehrsregeln in den Hintergrund. Das gilt umso mehr, wenn sich zu Fuß Gehende im Freizeitbereich befinden. Erst in Situationen, in denen der eigene Weg einen übergeordneten quert, widmen zu Fuß Gehende dem Querungsvorgang ein erhöhtes Maß an Aufmerksamkeit und Verhaltensanpassung. Zu Fuß Gehende wählen ihren Weg, in Abhängigkeit von verschiedenen Faktoren, wie bspw. Hindernissen, Sonne bzw. Schatten, situativ. Sie ändern spontan die Richtung, wenden, bleiben stehen oder gehen schneller.
Sind zu Fuß Gehende nicht allein unterwegs gehen sie gern nebeneinander und unterhalten sich. Dabei fühlen sich die zu Fuß Gehenden häufiger von konkurrierendem Radverkehr gestört.

Leitfaden, Seite 12

Fußgänger sind also nur dann bereit, Rücksicht zu nehmen, wenn sie vom Autoverkehr dazu gezwungen werden – dann aber anstandslos.

Wie verhalten sich Radfahrer?

Insbesondere in den Fällen hoher Verkehrsstärken wurde ein Anpassen des Verhaltens von Radfahrenden an die Situation beobachtet. Sie verringerten ihre Geschwindigkeiten oder stiegen vom Rad.

Leitfaden, Seite 22

Das Problem sind also nicht die Radfahrer, sondern die vermeintlichen Besitzansprüche der Fußgänger.

Bezogen auf die Julius-Philipp-Zechenbahn ergibt sich aus dem Leitfaden eine empfohlene Wegbreite von 3,25 m bei einer Beschränkung auf 400 Verkehrsteilnehmer in der Spitzenstunde. Auf der Springorum-Trasse wird dieser Wert nicht erreicht. Die Trasse der Julius-Philipp-Zechenbahn ist genauso breit und wird weniger Verkehr haben. Wegbreiten über vier Meter – wie auf der Opel-Bahn im Bau – gelten dagegen als besonders gefährlich.
Darüber hinaus sollten attraktive [!] Alternativen geprüft werden. Dabei ist besonders die Umwegempfindlichkeit zu berücksichtigen.

Die Idee, die Julius-Philipp-Zechenbahn freizugeben und »Am Knüpp« bei Bedarf zur Fahrradstraße zu machen, ist also genau richtig.

Wenn Fußgänger den Radfahrern den Krieg erklären, reiben Autofahrer sich die Hände. Oft sind dabei Fußgänger und Autofahrer ein und dieselbe Person. Niemand kann Autofahrer sein, ohne auch Fußgänger zu sein. Das gilt übrigens auch für Radfahrer. Nehmen sie deshalb so viel Rücksicht auf Fußgänger?

Damit sind wir wieder bei der Autostadt Bochum. Das ist des Pudels Kern – oder der Elefant im Raum.

Der Bezirk Süd entscheidet eigenmächtig am 18.03.2025.

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