Herner Straße: Ist Tempo 30 langsamer?

Herner Straße an der A40 (Dezember 2024)

Bild: Herner Straße an der A40 (Dezember 2024)

Vor sieben Jahren, im Oktober 2018, wurde auf der Herner Straße zwischen den Anschlussstellen der A40 und der A43 eine streckenbezogene Geschwindigkeitsbegrenzung auf 30 km/h angeordnet.

Viele Autofahrer würden hier lieber wieder mit Tempo 50 fahren und werden politisch dabei unterstützt.
Eine Bürgeranregung dazu wurde aber schon 2022 abgelehnt.

Jetzt wollte die FDP von der Verwaltung wissen, welche Auswirkungen Tempo 30 auf der Herner Straße tatsächlich hat. Vielleicht würde man ja Argumente gegen das Tempolimit finden …

Die Verwaltung hat die Fragen der FDP am 13.05.2025 im Ausschuss für Mobilität und Infrastruktur ausführlich beantwortet und dazu eine Vorlage erstellt (Antwort der Verwaltung Nr.: 20250889 vom 8.4.2025).

Weniger Autos – weniger Luftverschmutzung, Lärm und Unfallfolgen

Die Verwaltung führt dazu aus:

Die Absenkung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit auf der Herner Straße war die zentrale Maßnahme, um im Februar 2020 den Vergleich zwischen der Deutschen Umwelthilfe e.V. (DUH) und dem Land NRW zu ermöglichen. Die zu hohen Messwerte für Stickoxide an der Messstelle Herner Straße waren Ausgangspunkt der DUH-Klage gegen die Stadt Bochum.

Eine Verkehrszählung an der NO2-Messstelle in Höhe der Herner Straße 385 ergab vor Einführung von Tempo 30 ca. 31.000 Fahrzeuge am Tag. Nach Einführung von Tempo 30 wurden im Jahr 2019 zwei Zählungen durchgeführt. Aus den beiden Zählungen lässt sich ein Mittelwert von ca. 24.500 Fahrzeugen am Tag bilden.

Die Reduzierung der Verkehrsmenge bildet den Hauptgrund für den Rückgang der Schadstoffbelastungen im Ortskern von Bochum-Riemke.

Darüber hinaus kann Tempo 30 zur Lärmreduzierung und auch meist die Unfallschwere reduzieren.

An der Herner Straße wurde zuletzt 2019 eine Überschreitung des Grenzwertes von 40 Mikrogramm/m³ gemessen. Der Jahresmittelwert wurde zuletzt 2018 überschritten.

Bremst Tempo 30 tatsächlich den Autoverkehr aus?

Um Tempo 30 mit Tempo 50 vergleichen zu können, reicht es nicht aus, punktuell Geschwindigkeiten zu messen. Entscheidend ist nicht die erreichte Höchstgeschwindigkeit, sondern die Durchschnittsgeschwindigkeit auf einem Streckenabschnitt. Wen ich früher an der nächsten roten Ampel ankomme, bin ich zwar gefühlt sehr schnell gewesen, stehe tatsächlich aber nur länger vor einer roten Ampel. Trotzdem fühlen sich viele Autofahrer als Sieger, wenn sie an der roten Ampel die Ersten sind.
Niemand hat ein Gefühl für Durchschnittsgeschwindigkeiten.

Dementsprechend sagt die Verwaltung: Wirklich objektive Kenngrößen zum Verkehrsfluss werden auf Stadtstraßen kaum ermittelt. Für Stadtstraßen bleibt nur die Reisezeit als mögliche Kenngröße.

Allerdings hat die Verwaltung nur einen einzigen Vergleichswert vor dem Tempolimit gefunden:
Ein Gutachter hat am Montag, den 26.03.2018 um 11:56 Uhr, genau 6:12 min von der Anschlussstelle der A43 bis zur AS der A40 gebraucht.

Für den aktuellen Wert hat die Verwaltung zwischen A40 und A43 eigene Experimente durchgeführt:
»Mit google Maps wurde dieser Abschnitt in den vergangenen Wochen (März 2025) mehrfach stichpunktartig zu verschiedenen Tageszeiten überprüft. Dabei stellte sich stets eine Reisezeit von 6 oder 7 Minuten, in seltenen Fällen 5 Minuten, heraus (google gibt lediglich ganze Minuten an).«

Der Vergleich mit 2018 zeigt, dass es zu keiner spürbaren Verlängerung der Reisezeit gekommen ist.

Die unveränderte Reisezeit bei Tempo 50 und Tempo 30 hält die Verwaltung aus zwei wesentlichen Gründen für plausibel:

  1. Die Grüne Welle auf der Herner Straße wurde auf 30 km/h optimiert. Die Grüne Welle funktioniert gut, wenn man sich an die Geschwindigkeitsbeschränkung hält.
  2. Vor 2018 konnte man ggf. zwar auf einzelnen Abschnitten schneller fahren, war aber auch häufiger Teil eines Staus.

Tempo 30 ist nicht langsamer als Tempo 50

Der paradoxe Befund, dass die Reduzierung der erlaubten Höchstgeschwindigkeit sich – trotz Kontrollen – kaum auf die tatsächliche Reisezeit auswirkt, ist schon lange bekannt. In Paris gilt schon seit 2015 in weiten Teilen der Stadt Tempo 30. Der Verkehr in Paris erreicht im jährlichen Schnitt gerade 15,9 km/h, wie der jährliche Report der städtischen Verkehrsbeobachtungsstelle offenbart. Dabei betrage der Geschwindigkeitsunterschied zwischen einer Metropole mit einer Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h und einer Stadt mit überwiegend Tempo 30 im Schnitt nur 1,5 Kilometer pro Stunde, so der für Verkehr zuständige Grüne Vize-Bürgermeister Christophe Najdovski.1

Auch großflächige Tempo-30-Bereiche verlängern die durchschnittlichen Fahrzeiten nur um 40 Sekunden. Gemeinsames Langsamfahren verbessert den Verkehrsfluss, zeigen Untersuchungen des britischen Verkehrsministeriums. Die Abstände zwischen den Fahrzeugen würden geringer. Dadurch werde der verfügbare Straßenraum effizienter genutzt, erklären Experten.2

Die interessanteste Erkenntnis aus den Pilotstädten: Ein niedrigeres Tempolimit macht Radfahren und zu Fuß Gehen attraktiver. In Bristols Tempo-20-Bezirken wurden 20 Prozent mehr Strecken mit dem Fahrrad zurückgelegt und 23 Prozent mehr zu Fuß.

Wo ist der Verkehr geblieben?

Das Kfz-Aufkommen auf der Herner Straße ist laut Verwaltung seit 2028 von etwa 31.000 Kfz/Tag auf etwa 25.000 Kfz/Tag gesunken. Das ist etwa 20 % weniger Kfz-Verkehr. Der Verkehr in den angrenzenden Nebenstraße ist aber nur um wenige hundert Fahrten etwa 2.500 Kfz/Tag gestiegen. Diese Straßen sind aber für 4.000 bis 8.000 Kfz/Tag ausgelegt (wenn sie nicht zugeparkt werden).

Was fehlt: Der Lkw-Verkehr

Die Antwort der Verwaltung berücksichtigt nicht, dass die Stadt Bochum die Herner Straße über Eingriffe in die Navigation möglichst frei von Lkw-Verkehr halten will. Ein Fahrverbot für Lkw ab 3,5 Tonnen hatte die Bezirksregierung abgelehnt. 

Für LKW über 7,5 Tonnen gibt es ein Durchfahrtverbot über die Herner Straße.

Die Laster werden auf den Autobahnen A40 und A43 so geleitet, dass sie die Herner Straße nicht mehr als „Abkürzung“ nutzen. Der Verkehr hat sich dadurch erheblich reduziert und sank um 21 Prozent.3

Verkehrsverpuffung (Traffic Evaporation )

Ein Teil des Verkehrs auf der Herner Straße ist einfach verschwunden – ein Phänomen, das Verkehrsforschern als »disappearing traffic«4 bestens bekannt ist. Bei der plötzlichen Sperrung der Stadtautobahnbrücke in Berlin im März 2025 blieb das prognostizierte Verkehrschaos aus. Nach wenigen Tagen war trotz gesperrter Brücke alles wieder normal. Der Verkehr war einfach verschwunden.

Die Berliner stellten sich auf ein monatelanges Verkehrschaos ein. Aber am Montagmorgen um halb acht, mitten im Berufsverkehr, ist im Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf vom Chaos der vergangenen Tage nichts mehr zu spüren.
»Zum Teil ist es ein Rätsel, wo die ganzen Autos abbleiben«, sagt Verkehrsforscher Schreckenberg. Für ihn sei das ein Beleg, dass viele Fahrten im Grunde unnötig seien.5

Bereits seit den 60er Jahren ist bekannt, dass auch bei gleichbleibendem Verkehrsaufkommen die Erweiterung des Straßennetzes (z.B. durch Nutzung des Nebenstraßennetzes auf Empfehlung eines Routingdienstes) längere Fahrzeiten für alle Autofahrer:innen verursachen kann („Paradoxon der Verkehrsplanung“ des Mathematikers Dietrich Braess) und der (Aus)bau zusätzlicher Straßen langfristig mehr Verkehr verursachen kann („induzierte Nachfrage“ nach dem Ökonomen Anthony Downs).
Nach der Logik von Downs führt ein geringeres Angebot an Fahrspuren zu einer Verringerung der Nachfrage insgesamt, also weniger Autos auf den Straßen.6

Das oftmals anstelle einer Verkehrsverlagerung in benachbarte Straßen beobachtete und als paradox empfundene Phänomen der Verkehrsverpuffung ist zu erklären durch

  • die Wahl von näherliegenden Zielen,
  • die Vermeidung von Autofahrten,
  • die Verteilung auf zahlreiche alternative Routen sowie
  • den Umstieg auf andere Verkehrsmittel

Gab es mehr Unfälle?

Die Verwaltung hat das Unfallgeschehen auf der Herner Straße für jeweils sechs Jahre vor nun nach dem Tempolimit ausgewertet. Das Unfallgeschehen laut Polizeistatistik ist im Jahresvergleich oft durch große Schwankungen bei den Unfallzahlen gekennzeichnet. Die Unfallzahlen streuen weit. Die Werte einzelner Jahre weichen bis zu 100% vom Mittelwert ab.

Werden die Mittelwerte der Jahre vor und nach Einrichtung der Maßnahme gebildet, zeigt sich ein Rückgang auf die Hälfte bei den Unfällen ohne Beteiligung von Fuß und Rad. Bei Unfällen unter Beteiligung von zu Fuß Gehenden und Radfahrenden steigt der Wert leicht.

Die Reduzierung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit hat sich vor allem positiv auf die schweren Unfälle von Kfz untereinander ausgewirkt. Bei den Unfällen mit Schwerverletzten ist ein deutlicher Rückgang erkennbar.

Radfahrstreifen an der Herner Straße in Riemke (2024)
Radfahrstreifen an der Herner Straße in Riemke (2024)

Der Anstieg bei den Unfällen mit Beteiligung von Fuß- und Radverkehrs könnte damit zusammenhängen, dass lediglich das Kfz-Verkehrsaufkommen, nicht aber das Radverkehrsaufkommen berücksichtigt wurde, das Radverkehrsaufkommen aber vermutlich einen deutlich größeren Einfluss auf die Anzahl der Radverkehrsunfälle hat.

Die Ergebnisse aus der Haushaltsbefragung zur Mobilität zeigen, dass der Anteil der Wege mit dem Rad in Bochum in den letzten 10 Jahren um etwa 50 % gestiegen ist.

Der eigentliche Fehler

Der eigentliche Fehler bei der Planung des Bauabschnitts der Herner Straße zwischen A40 und A43 war der Irrglaube, mit vier Fahrstreifen sei alles besser. Die Straße wurde geplant und gebaut als Abkürzung zwischen A40 und A43 – ohne Rücksicht auf den Ortsteil Riemke. Das Problem war also hausgemacht. Bis zur A40 und in Herne hat die Herner Straße nur zwei Fahrstreifen.
Mit vier Fahrstreifen wird es eng. Die Folge sind zu schmale Radfahrstreifen und ungenügende Sicherheitstrennstreifen zu den parkenden Autos am Fahrbahnrand. Beides hat an der Herner Straße schon zu schweren Unfällen geführt.

Unfallstelle an der Herner Straße Juni 2019: Beinahe tödlich.

Die Herner Straße könnte ein Musterbeispiel für eine Complete Street sein. Riemke würde davon profitieren. Fußgänger und Radfahrer auch. Aber das war und ist politisch nicht gewollt.

Lieber baut die Stadt Bochum mit hohem Kostenaufwand eine höchstens rudimentär funktionierende Veloroute nach Riemke und verkauft das als Erfolg.

  1. http://www.spiegel.de/auto/aktuell/paris-tempo-30-limit-gegen-staus-und-umweltverschmutzung-a-1035584.html (29.05.2015) ↩︎
  2. https://www.zeit.de/auto/2012-11/tempo-30-kommunen/komplettansicht (15. November 2012) ↩︎
  3. https://www.bochum.de/Umwelt–und-Gruenflaechenamt/Dienstleistungen-und-Infos/Luft ↩︎
  4. https://www.tu.berlin/en/ztg/research/projects/current-projects/road-design-and-disappearing-traffic ↩︎
  5. https://www.spiegel.de/panorama/a100-brueckensperrung-in-berlin-kein-chaos-was-ist-da-denn-los-a-03bce3dc-3509-475e-84c5-ae129fc8ab36 (Spiegel+) ↩︎
  6. https://www.agora-verkehrswende.de/veroeffentlichungen/weniger-verkehr-versuchen ↩︎

Ein Kommentar bei „Herner Straße: Ist Tempo 30 langsamer?“

  1. Sehr guter Artikel, wie immer.

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